Die Mestizin
sie ja wusste, dass auch sie eine Weiße war.
Am nächsten Tag wurde sie in ein leeres Zimmer geleitet, das nur drei Wände hatte, denn da, wo die vierte hätte sein sollen, tat sich ein Schneegarten auf. Vor diesem Hintergrund aus weißem Licht saß rechts, leicht abgehoben vom Grau des Schattens, die Königin auf einer Matte, daneben ein schlafendes Kind. Sie lud Erna ein, auf dem quadratischen Teppich Platz zu nehmen, der neben ihr lag. Sie trug einen Rock aus rotem Stoff, ihre Brust war entblößt.
Erna wartete schweigend ab, bis F. C. das Gespräch eröffnete. Als diese schließlich mit scheuer Verlegenheit zu reden begann, entlud sich ein mystischer Blitz der Weltlichkeit. Erna zitterte und lächelte. Sie hatten sich angefreundet. F. C.s heitere und frivole Überzeugung verbarg alles, was sie sagte, hinter einer sprachlichen Präzision, die nicht von dieser Welt war. Für Erna war es, als spräche sie Latein. Während sie ihr zuhörte, glaubte sie, weil sie deren Leben verstand, zum ersten Mal auch die Melancholie zu verstehen. Die Indianer hatten ihre Kindheit aufgelöst, waren über sie gekommen wie das schönste aller Himmelsspektakel, waren reine Ideen gewesen. Und nun, da sie sich so sehr in ihre mit Federn geschmückten, glänzenden Köpfe hineingedacht hatte, hinter die herrlich bemalten Gesichter, wurde ihr bewusst, dass sie keine Künstler waren, sondern die Kunst selbst, der letzte Zweck des melancholischen Wahns. Die Melancholie hatte sie gehen gelehrt und sehr weit gebracht, bis ans Ende eines Wegs. Und als sie schließlich dort angekommen waren, hatten sie größten Mut bewiesen und der Frivolität direkt ins Antlitz geblickt, sie bis ins Innerste ihrer Lungen eingesogen.
Mit der Zeit wurde sie von einem dringlichen Wunsch erfüllt, dessen Sinnlosigkeit sich allenfalls mit den Kreisen des gesamten Universums messen ließ, nämlich das Geheimnis der Gegenwart zu durchdringen, die ewige Einheit des Lebens zu durchlaufen und den fluktuierenden Schleier des Systems zu sehen, denn in der Wildnis hatten die Systeme die Veränderlichkeit des Kolibrigesangs und die Nuanciertheit seines Federkleids, während ihre Erscheinungsformen unveränderlich wie Archetypen waren. Die Realität, die vollkommene Inkongruenz, musste irgendwann die Menschheit erreichen. Sie fragte Evaristo Hugo, ob es so war.
Das Reale, sagte der Minister, war der Staat. Dessen größte Herausforderung bestand darin, den Privatpersonen seine einzige unveräußerliche Befugnis zu übertragen, nämlich Geld in Umlauf zu setzen. Jeder Bürger hatte das Recht auf Freiheit, stets vorausgesetzt, sie war so vollständig, dass sie das Denken ausschloss.
«Denken lohnt sich nicht», sagte er, «es sei denn, wir werden von den anderen dazu gedrängt. Geld ist die einzige Telepathie, die wir brauchen.»
Erna sah die verträumte Hast der Indianer, den Erfinderdrang, der sie an die Welt fesselte, ans dunkelste Dunkel der stillen Lichtungen, wo sie ihre Finanzkunst ausübten, die ein Schatten war: der Schatten des Menschlichen, der sich über das Unmenschliche legte.
Alle druckten Geld, jedermann verfügte über die Mittel dazu. Es war schon immer so gewesen, behaupteten sie, seit der Prähistorie. Doch die Prähistorie war ein Trugbild. Schließlich war die Ökonomie das Fundament der einzigen Gewissheit des Indianers: der Unmöglichkeit des Lebens. «Das Leben ist unmöglich» war Denken in seiner klarsten, radikalsten Form, das heißt, ein Modell, und dies war ihnen stets bewusst. Ihr ganzes Leben lang. Ob sie sich nun fortpflanzten, dem Flug einer Wolke folgten, einen Perlhuhnflügel aßen, schwammen, auf den Schlaf warteten… es war das Einzige, was sie wussten, alles andere zählte nicht für sie.
Mit den Geldscheinen zahlten und zahlten sie ohne Unterlass; es machte ihnen nichts aus, wahrscheinlich merkten sie es nicht einmal. Ob Zeichner, Kopisten, Kalligraphen: Die Phantasie diktierte ihnen Zahlen und die Vorahnung des Todes. Wie eine gleichgültige Sphinx brachte die Melancholie Zahlen hervor, wahllose Zahlen, die im Himmel immer umfangreicher wurden. Das Leben blieb weiterhin unmöglich, die prähistorische Ästhetik flüchtete, ihre Lehre ebenso. Noch vor dem Rauchen lernten die Kinder, Druckplatten zu bedienen, die Alten legten den Kopf auf eine eingefärbte Walze, um ihren letzten Atemzug zu tun. Und dennoch war es eine Tätigkeit, deren Geheimnis sich ihnen entzog. «Geld gibt es zu viel», sagten sie, «und Leben zu
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