Die Mestizin
Sommerresidenz hatte. Die Luft war bereits stark abgekühlt. Als sie ankamen, lag alles unter einer spektakulären Wolkendecke. Die grauen Nachmittage und allgemeine Wetterturbulenzen machten die ersten Tage trübsinnig. Evaristo Hugo schlief entweder, oder er bewunderte mit verdrossener Miene die Fische, die von seinen Köchen gefangen wurden.
Eines Morgens roch Erna beim Aufwachen den Duft des Schnees. Obwohl es noch dämmerte, war die Helligkeit anders, ja, vollkommen. Der Himmel, den sie durchs Fenster erspähte, war von einem Blau, das fast dunkel wirkte, so rein war es. Hinter dem Papiervorhang sah sie eine Silhouette.
«Wer ist da?», fragte sie verschlafen.
Statt zu antworten, steckte jemand einen Arm herein und warf lachend eine Hand voll Schnee ins Zimmer. Erna riss schnell die Decke hoch, aber ein winziger Eistropfen traf ihr Gesicht. Sie erhob sich, und als sie die Galerie betrat, standen die anderen schon da in stummem Staunen. Die Insel war weiß, die Luft eisig, die weißliche Sonne erwärmte die Erde nicht: Diese Schicht würde nicht mehr schmelzen.
Alle Bäume der Insel – blaue Kiefern und Linden – sahen aus wie Luftballons aus Eis. Die glatte Oberfläche des Bodens war geradezu eine Einladung, darauf Spuren zu hinterlassen. Der Gesang der Schnepfen klang anders, ängstlicher vielleicht.
«Das muss man gesehen haben. Sollen wir ihn aufwecken?»
Der Minister stand gar nicht gern früh auf. Er hatte am Vortag den ganzen Nachmittag geschlafen, und ebenso die ganze Nacht. Es lohnte sich, seine schwermütigen Alpträume zu unterbrechen. Er zeigte sich entzückt und traurig zugleich, wie immer.
«Was wohl aus den Ameisen geworden ist? Geschützt im tiefen Grund der Erde? Und die Motten sind jetzt Larven in Windeln aus malvenfarbener Seide.»
Er setzte sich unter einen Sonnenschirm – das spiegelnde Licht störte ihn. Er begann zu rauchen. Dann schlief er im Sitzen ein.
Die Kinder hatten es so eilig, draußen zu spielen, dass sie gar nicht erst abwarteten, bis das Frühstück fertig war. Sie veranstalteten einen Schneemannwettbewerb. Den Minister weckten sie ständig auf, weil er entscheiden sollte, welcher der beste Schneemann war, und anschließend beklagten sie sich bitterlich über jeden Urteilsspruch. Es folgte eine Schneeballschlacht, bei der sie so laut schrien, dass Evaristo Hugo beschloss, umgehend in die Hauptstadt zurückzukehren, andernfalls würden sie ihm den letzten Nerv töten.
Der Hauptteil der Familie reiste auf einem Schiff mit drei Segeln aus Strohgeflecht. Er selbst fuhr viel später los, mit Erna und einer weiteren jungen Frau, auf einem Floß mit nur einem quadratischen Segel. Ein Seemann steuerte es. Die drei saßen da und betrachteten die Ufer. Alles war gleich, ein grenzenloses Weiß.
«Was für ein merkwürdiger Stoff der Schnee doch ist!», rief Evaristo Hugo. «Ich wüsste nicht, wie ich ihn definieren sollte. Ich glaube, er zählt zu den festen Formen, dabei ist fest eigentlich das, was er bedeckt: die Steine, die Baumstämme. Er ist ein Zustand, und dennoch werden wir ihn lange Zeit sehen müssen…»
Er versank in seinen Gedanken. Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr Kinder sahen sie, die weiße Drachen steigen ließen, um den ersten Schnee zu begrüßen. Man gab ihm etwas zu rauchen. Das Wasser wirkte im Vergleich zur Erde schwarz. Manchmal bog sich, ohne ersichtlichen Grund, ein Baum und ließ einen Schneeball fallen. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte Evaristo Hugo sich ein rotes Quadrat auf die Brust malen lassen. Er seufzte schwermütig. Erna nahm seine Hand.
«Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich so niedergeschlagen bin», sagte er.
«Es gibt nicht immer einen Grund.»
«Das stimmt. Ich bin müde wie ein Bettler. Ich frage mich, wann das Leben zu Ende gehen wird.»
Die andere Ehefrau lachte.
«Ich dachte, Bettler führen ein geruhsames Leben.»
«Ganz und gar nicht», sagte er kopfschüttelnd, «sie müssen erst die Steine abnagen, bevor sie an eine Tür klopfen und um ein Glas Wasser bitten dürfen.»
«Warum versuchen hier am Hof alle Bettler Mitleid zu erregen, indem sie sich als Asthmatiker ausgeben?», fragte Erna.
«Wer weiß. Ich habe es nie erraten.» Er fand es geschmacklos, auch nur das geringste Wissen zur Schau zu stellen. «Seht euch das an.»
Am Vorsprung einer Schlucht hingen, vom Schnee deutlich abgehoben, schwarze Mäuse in einer Reihe, alle mit dem Kopf zum Wasser. Das vorbeifahrende Boot erschreckte sie, so dass sie
Weitere Kostenlose Bücher