Die Mestizin
für ein Gefühl, als die ersten Scheine hervorkamen! Ich sehe sie regelrecht vor mir, diese mattgraue Platte, die nur auf einer Seite druckte, mit den vierzig Scheinen, die wir mit der Schere ausschneiden mussten, weil wir nicht einmal eine Schneidemaschine hatten. Einer der wichtigsten Augenblicke meines Lebens, vielleicht der größte von allen…» Dann wandte er sich wieder Erna zu und sagte: «Vielleicht werden Sie das Gleiche fühlen, wenn Sie sehen, wie aus den Eierschalen das erste Rasseküken herauskommt, wie es sich schüttelt, piept, singt…» Da bemerkte er das Lächeln auf dem Gesicht der jungen Frau und wechselte das Thema: «Ich weiß nicht, warum ich Ihnen diese Geschichten erzähle! Heutzutage ist alles anders, durch die Druckerpresse, die ich aufbauen konnte, sind wir an einen Punkt gelangt, an dem es überhaupt kein Problem mehr ist, reich zu werden. Ist das nicht seltsam?» Erna überlegte. Der Oberst dachte, sie würde es nie seltsam finden können. Weder das noch sonst etwas. Konnte der Gefangenen überhaupt irgendetwas seltsam vorkommen in diesem Menschenparadies, in dem sie Tag und Nacht lebte? Rauchend, Tauben essend, Würfel spielend?
Ein Indianer mit einer riesigen Stange von sechs Metern Länge, an deren Enden Federbommel hingen, trat hoch oben in einer Steineiche aus einem ovalen Loch im Blattwerk. Überall hüpften Vögel und Eichhörnchen herum, doch alle Blicke richteten sich auf den Akrobaten. In die plötzliche Stille hinein erklang ein Triangel. Der Ton hielt die Spannung aufrecht. Es war ein Indianer mittleren Alters, der den Zuschauern aufgrund der Höhe wie eine Puppe vorkam. Sein Kopf war kahl geschoren, die Füße waren mit Kreide bemalt, und als einzigen Schmuck trug er ein breites Band aus weißer Farbe um die Hüfte, das aussah wie eine Nabelbinde aus Baumwolle. Mit unmerklichen Bewegungen ergriff er die Stange genau in der Mitte. Dann schließlich, nach langen Vorbereitungen, während deren immer wieder der Triangel erklang, ging er los, durch die Luft – in Wirklichkeit auf einem Seil, das von unten nicht zu sehen war. Mit weibischen Tippelschritten gelangte er an einen Punkt direkt über den Köpfen der Menschenmenge, die im Freien zu Mittag aß, und blieb dort stehen. Alle applaudierten, und der Seiltänzer vollführte, für alle überraschend, eine Drehung um dreihundertsechzig Grad und setzte seinen halsbrecherischen Marsch fort, was den Leuten ein erschrockenes Murmeln entlockte. Er ging auf den Wipfel einer krummen Fichte zu und verschwand unter Applaus in ihrem Nadelkleid.
Danach kamen Kinder heraus. Sie ließen sich an Spinnfäden herab – in den Bäumen mussten Dutzende von Seilen hängen, ein ganzes Netz –, anmutig und unbekümmert, manche von ihnen waren so klein, dass es unbegreiflich war, wie sie diesen anspruchsvollen Beruf hatten lernen können. Keines fiel herunter. Ein Unfall hätte den sofortigen Tod bedeutet, da sie ja in beträchtlicher Höhe arbeiteten. Manche schienen viel höher zu klettern als andere.
Die Kunst der indianischen Seiltänzer, die einzige aus dem Repertoire des klassischen europäischen Zirkus, die sie entwickelt hatten, entsprach der Vorstellung von den Höhenunterschieden des Waldes. Ein Indianer, der dem Pillahuinco folgte, kam normalerweise an einen Rand, von dem ein Abhang abfiel. Alles verwandelte sich in etwas anderes, in etwas Geschrumpftes, Panoramahaftes: eine der Erfahrungen, die zu ihrer übernatürlichen Weltanschauung geführt hatte.
Die Bedingung für das Übernatürliche ist der theatralische oder pittoreske Blick, der Blick, der alles umspannt und aus dem Ganzen seinen Regenschirm macht. Deshalb überwiegen in der Ikonographie der Entdeckungsreisenden die Sonnenschirme und nicht, weil die schwache Sonne der Pampa, die in der Weiße des Lichts oder in der Weiße des Schattens immer gleich bleibt, sie notwendig macht. Gleiches gilt für die Sonnenschirm-Hüte, die Darwin auf die Köpfe der Indianer zeichnete, die in seinen groben Skizzen immer gerade ein schlankes Pferd mit menschlichem Gesicht bestiegen. Menschlichkeit ist jedenfalls der Schlüssel für den Umgang mit den Wilden: Das Menschliche verneinen, es bestätigen, es ausweiten, es in eine Welt verlagern, die ihm nicht entspricht und die stets die Welt der Kunst ist. Anthropologen verirren sich häufig in einem Labyrinth, das so durchsichtig ist wie die Seile der Seiltänzer. Sie tränken sie in spiegelndes Harz. Das verzwirbelte Gewebe
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