Die Meute
den Schultern. »Ich weiß nicht, warum.«
Du weißt es, dachte sie. Ja, ich weiß es, dachte er.
Diane hatte niemals verstanden, wie diese beiden Brüder so verschieden sein konnten. Larry war nur drei Jahre älter als Kenny. Der Altersunterschied war so gering, daß sie einfach etwas gemeinsam haben mußten. Aber da war nichts. Sie waren verschieden, gegensätzlich sogar, das hatte sie schon am Tag ihrer Verlobung festgestellt. In dem Augenblick, als Kenny in Larrys Apartment an der Eastside gekommen war, hatten die Streitereien begonnen. Zunächst hatte sie
Kennys Benehmen einem Mangel an Charakter zugeschrieben. Erst später erkannte sie, daß sich die beiden Brüder einfach nicht verstanden.
Eigentlich mochte sie Kenny nicht besonders und bedauerte nicht, wenig mit ihm zu tun zu haben. Aber in diesem Augenblick glaubte sie, daß er helfen konnte. Und das war für Larry genug Grund, ihn anzurufen. »Ich möchte, daß du ihn anrufst«, sagte sie kategorisch.
Larry, der wieder zum Fenster gegangen war, drehte sich um. Sie hatte recht. Kenny konnte helfen. Ja, Kenny würde sich sogar freuen, zu kommen und sie retten zu können. Das würde seiner Arroganz neue Nahrung geben. »Diane.« Er sagte es fast flehentlich. »Ich möchte ...« Weiter kam er nicht.
Das Klirren zerbrechenden Glases, ein schriller, panisch-entsetzter Schrei. »Die Kinder ...«, begann Diane, doch Larry hatte bereits die Kohlenschaufel gepackt und rannte zur Treppe. Mit drei langen Sätzen war er im ersten Stock. Die Tür zum Zimmer der Kinder war verschlossen. Von drinnen hörte er Geräusche, als spiele sich dort ein Kampf ab. Er ging einen Schritt zurück und trat die Tür mit dem Fuß ein.
Josh und Marcy unterbrachen ihren Ringkampf und strahlten ihn an. »Was ist los, Dad?« fragte Josh.
Marcy wiederholte kichernd die Frage ihres älteren Bruders: »Was ist los, Dad?«
»Bleibt hier«, befahl er. »Bleibt hier in diesem Zimmer.« Er schloß die Tür wieder und stieß, als er sich umwandte, fast mit Diane zusammen. »Bleib bei ihnen«, sagte er.
Rasch ging er zum Zimmer seiner Mutter. Im gleichen Augenblick hörte er einen Schrei. Cornys Stimme. Er hob die Schaufel und stieß die Tür auf.
Corny saß immer noch auf dem Boden. Vor ihr lag ein umgeworfener Nähkorb, und Dutzende von Knöpfen aller Farben, Formen und Größen waren um sie verstreut. Sie lächelte, und als er sie wütend anstarrte, schrie sie noch einmal. Dann lachte sie.
Frieda war nicht im Zimmer. »Wo ist meine Mutter?« fragte Larry so freundlich, wie er konnte.
»Wo ist sie?« Corny lachte wieder.
»Hier bin ich«, hörte er Frieda sagen, als sie hinter dem Bett aufstand, ein abgebrochenes Stück der alten Tischlampe in der Hand. »Ich habe sie hinuntergeworfen«, sagte sie entschuldigend.
»Ist dir etwas passiert?«
»Nein, nein.«
Er wies auf Corny. »Und ihr?«
Seine Mutter antwortete mit einem langen, traurigen, hilflosen Blick. »Larry, ich ...« Sie machte eine Pause. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wir brauchen -sie braucht... «
»Ich weiß, Ma, ich weiß. Sei beruhigt, es kommt bald Hilfe. Ich habe Kenny angerufen. Er kommt, um uns zu helfen. Er wird hier sein, sobald er kann«, log Larry.
Als sie den Namen ihres jüngeren Sohnes hörte, hellte sich Friedas Miene auf. »Gott sei Dank.«
»Ich soll dich sehr herzlich von ihm grüßen.«
Sie lächelte, sagte aber nichts.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«
Sie verstand, was er fragen wollte. »Ja, Larry. Ich mache mir nur Sorgen wegen ...« Corny s Name blieb unausgesprochen. »Gibt es irgend etwas, was wir tun können?«
»Bald, Ma, bald. Ich verspreche es dir. Inzwischen bleib bitte hier bei ihr. Laß sie nicht allein.« Er wandte sich zum Gehen, blieb dann an der Tür noch einmal stehen. »Möchtest du eine Tablette?«
Frieda deutete auf ein Glasfläschchen, das auf dem Nachttisch stand. »Die hat Diane mir hiergelassen. Ich nehme später noch eine.«
»Vielleicht solltest du auch Corny eine geben, um sie zu beruhigen.« Corny hob bei der Erwähnung ihres Namens nicht einmal den Kopf.
Seine Mutter nickte zustimmend, und Larry schloß die Tür. Die Zuversicht, die er noch vor wenigen Augenblicken empfunden hatte, war auf einmal ganz geschwunden. Er fühlte sich völlig erschöpft.
»Ja?« fragte eine lebhafte Stimme ins Telefon.
»Kenny? Ich bin es, Larry.«
Eine kurze Pause trat ein, ehe Kenny antwortete. »Ja, großer Bruder, wie geht’s dir denn? Lange nichts mehr
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