Die Meute
die Kontrolle über sich verlor, würde das niemandem helfen. »Schon gut, großer Bruder«, erwiderte Kenny beruhigend. Er wartete einen Augenblick lang und fragte dann: »Und Mom?«
Larry hatte Mühe, sich wieder zu fassen. »Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Wir sind alle im Haus, und da können sie wohl nicht rein. Oder glaubst du...«
Kenny antwortete nicht sofort.
»Das glaubst du doch nicht, oder?« drängte Larry.
Wenn sie hungrig genug waren, waren Hunde zu allem fähig, das wußte Kenny. Sie sprangen durch Fenster, nagten sogar Türen durch. »Nein«, sagte er schließlich leichthin, »ins Haus können sie natürlich nicht, Junge. Und jetzt haltet schön still, bis ich komme.«
Das war ein Fehler, dachte Larry. Ich hätte ihn niemals anrufen sollen. Ich hätte es selbst tun müssen, hätte sie selbst erschießen müssen. Der macht sich doch nur einen Spaß daraus, mich um Hilfe bitten zu lassen.
Szenen aus der Vergangenheit kehrten in sein Gedächtnis zurück -Augenblicke, deren Bitterkeit er verdrängt hatte. Kenny war es gewesen, der ihn nach Hause trug, als er sich im Graben den Fuß gebrochen hatte. Kenny haute ihn heraus, wenn er bei einer Keilerei den kürzeren zog. Kenny stieg auf die riesige Eiche und holte den Drachen, der sich dort verfangen hatte, wieder herunter. Kenny rettete ihn vor dem Ertrinken, als er in einen Strudel geraten war. Kenny, nur Kenny. Wie er das haßte! Am Tag, als er die Insel verließ, hatte er geschworen, daß er Kenny nie wieder brauchen würde. Und jetzt mußte er diesen asozialen Schnorrer um Hilfe bitten. Allein schon der Gedanke war unerträglich.
Auch Kenny begriff, was dieser Anruf bedeutete. Er wußte, daß Larry ihn für einen Nichtsnutz hielt, der sich von Stadt zu Stadt, von Job zu Job, von Frau zu Frau treiben ließ. Unreif hatte er ihn genannt, als sie das letztemal zusammengewesen waren. Dein ganzes Leben verplemperst du, hatte er ihn angeschrien. Aber jetzt brauchte er seine Hilfe, und Kenny genoß das.
Die Aussicht, ein paar wilde Hunde zu schießen und Larry zu beweisen, daß er Unrecht gehabt hatte, verlockte ihn. »Ich hole nur noch zwei Freunde, und dann kommen wir so schnell wie möglich.«
Larry bedankte sich widerwillig und legte auf. »Er kommt mit ein paar Freunden«, sagte er in müdem Ton zu Diane. »Sie sind heute abend hier, wenn sie ein Boot finden. Sonst morgen.« Noch immer konnte er nicht fassen, wie unbewegt Kenny die Nachricht vom Tod des Vaters aufgenommen hatte.
Diane lächelte erleichtert. Sie wußte, wie schwer ihm dieser Anruf gefallen war, und ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken. Es brachte nichts, ihn noch mehr zu verletzen. Hilfe war unterwegs.
Sie saßen schweigend beisammen. Noch nie waren sie weiter voneinander entfernt gewesen.
Der Irishsetter erstarrte. Das Gewicht leicht nach vorn gelegt, den Schwanz waagrecht ausgestreckt, spähte er in den Wald hinein. Ein Wolfshund erhob sich und lief über den Steg, die Schnauze schnüffelnd am Boden. Bald hatte er die Spur gefunden.
Ein Ast war unter dem Gewicht des Neuschnees gebrochen und hatte seine Last auf das Winterquartier eines braunen Waldeichhörnchens abgeladen, das sich nun einen neuen Unterschlupf suchen mußte. Der Setter hatte das Krachen des Astes gehört. Der Wolfshund hatte sich auf seine Spur gesetzt.
Zunächst huschte das Eichhörnchen vorsichtig von einem sicheren Punkt zum anderen. Einmal glaubte es ein Geräusch zu hören und jagte den nächsten Baumstamm hinauf. Nach einigem Zögern kam es wieder herunter und suchte weiter.
Der Wolfshund war immer wieder wie erstarrt stehengeblieben, wenn das Eichhörnchen vorsichtig seine Umgebung beäugte. Jetzt hatte er sich nahe genug herangeschlichen. Sein Instinkt sagte ihm, wann er zuschlagen mußte. Mit zwei gewaltigen Sätzen stürzte er sich auf das Eichhörnchen, bevor es auch nur versuchen konnte zu fliehen. Ein Biß, und sein Genick war gebrochen.
Der Wolfshund schüttelte das Tier wie ein Kind eine Puppe. Dann legte er es fast sanft in den Schnee, hob die lange, spitze Schnauze und verkündete mit Triumphgeheul seinen Sieg.
Jenseits des Grabens stimmten die anderen mit ein. Ein Inferno aus Knurren, Heulen, Gebell und Gekläff zerriß die eben noch friedliche Stille.
Diane kam zu Larry ans Küchenfenster. »Was ist los, warum heulen sie so?« fragte sie.
»Ich weiß nicht.« Er schüttelte ratlos den Kopf. »Vielleicht spielen sie nur.« Oder es ist das Angriffssignal, dachte
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