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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Hirsche oder Rehe schießen, die ich im Kamin braten würde, und jenes einfache Leben führen, das ich aus verschiedenen menschlichen Lebensberichten kannte. Fox würde darüber glücklich sein, das wußte ich, die Erinnerung daran steckte noch in seinen Genen. Ich selbst brauchte nur Kapseln mit Mineralsalzen, aber mein Vorrat würde noch sechs Monate reichen. Anschließend benötigte ich Meerwasser, wenn es das Meer überhaupt noch gab und wenn ich es erreichen konnte; oder ich mußte sterben. Legte man die menschlichen Kriterien zugrunde, hing ich nicht sehr am Leben, die ganze Lehre der Höchsten Schwester zielte darauf ab, sich aller Bindungen zu entledigen. Seit ich mich wieder in der ursprünglichen Welt befand, hatte ich das Gefühl, ein unerwünschter Fremdkörper innerhalb eines Universums zu sein, in dem alles auf das Überleben und die Fortpflanzung der Gattung ausgerichtet war.
    Spät in der Nacht wachte ich auf und sah ein Feuer am Seeufer. Ich richtete das Fernglas darauf und bekam einen Schock, als ich die Wilden entdeckte: Ich hatte sie noch nie aus so großer Nähe gesehen, und sie waren anders als jene, die die Umgebung von Almeria bevölkerten, sie waren kräftiger und hatten hellere Haut; das mißgestaltete Wesen, das ich bei meiner Ankunft im Dorf bemerkt hatte, war vermutlich eine Ausnahme. Sie waren etwa dreißig, saßen rings um das Feuer und trugen zerlumpte Ledersachen — vermutlich von Menschenhand gemacht. Ich ertrug ihren Anblick nicht sehr lange, ging wieder hinein und legte mich leicht zitternd im Dunklen hin; Fox schmiegte sich an mich und drückte seine Schnauze gegen meine Schulter, bis ich zur Ruhe kam.
    Am nächsten Morgen fand ich einen Koffer aus hartem Kunststoff, der ebenfalls von Menschenhand gefertigt war, vor dem Tor der Burg. Da die Wilden unfähig waren, selbst irgendeinen Gegenstand herzustellen, und keinerlei Technik entwickelt hatten, lebten sie von den industriellen Überresten der Menschen und begnügten sich damit, die Gegenstände zu benutzen, die sie hier und dort in den Trümmern früherer Wohnungen fanden, zumindest jene Dinge, bei denen sie begriffen, wie sie funktionierten. Ich öffnete den Koffer: Er enthielt Knollen, die ich nicht kannte, und ein Stück gebratenes Fleisch. Das war die Bestätigung, daß die Wilden so gut wie nichts über die Neo-Menschen wußten; ihnen war offensichtlich nicht einmal bewußt, daß mein Stoffwechsel nach einem ganz anderen Prinzip funktionierte als der ihre und daß diese Nahrungsmittel für mich unbrauchbar waren; Fox dagegen verschlang das Stück Fleisch mit gutem Appetit. Das bestätigte darüber hinaus, daß sie große Angst vor mir hatten und versuchten, mein Wohlwollen zu gewinnen oder mich wenigstens dazu zu bewegen, mich neutral zu verhalten. Gegen Abend stellte ich den leeren Koffer vor den Eingang, um ihnen zu zeigen, daß ich die Opfergabe angenommen hatte.
    Die gleiche Szene wiederholte sich am nächsten Tag und an den darauffolgenden Tagen. Tagsüber beobachtete ich das Verhalten der Wilden durchs Fernglas: ich hatte mich einigermaßen an ihr Aussehen gewöhnt, an ihre zerfurchten, groben Züge, und auch daran, daß ihre Geschlechtsorgane unverhüllt waren. Wenn sie nicht jagten, schienen sie die meiste Zeit zu schlafen oder sich zu paaren — zumindest jene, denen die Möglichkeit dazu geboten wurde. Der Stamm war nach einem strengen hierarchischen System aufgebaut, wie ich schon nach wenigen Tagen der Beobachtung herausfand. Der Anführer war ein männliches Wesen um die Vierzig mit leicht ergrautem Haar; ihm zur Seite standen zwei junge Männchen mit muskulösem Oberkörper, die bei weitem die größten und kräftigsten der Gruppe waren; nur sie hatten das Vorrecht, mit den Weibchen zu kopulieren: Wenn diese einem der drei dominanten Männchen begegneten, hockten sie sich auf alle viere und boten ihre Vagina dar; wenn jedoch andere Männchen Annäherungsversuche unternahmen, stießen sie diese heftig zurück. Der Anführer hatte in jedem Fall Vortritt vor seinen beiden Untergebenen, zwischen diesen schien jedoch keine eindeutige Hierarchie zu bestehen: Wenn der Anführer nicht da war, kopulierten sie nacheinander und manchmal gleichzeitig mit einem der verschiedenen Weibchen. In dem Stamm gab es keine älteren Wesen, und das Alter von fünfzig schien die Obergrenze zu sein, die sie erreichen konnten. Kurz gesagt, sie besaßen eine Organisationsform, die den menschlichen Gesellschaften durchaus nahestand,

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