Die Mission des Wanderchirurgen
Glieder. »Danke, der Tropfen ist sehr gut«, versicherte er.
»Nun, um auf Montella zurückzukommen: Er ist ein Freund von mir. Als die Pestis vor drei Jahren über Venedig kam, war er einer meiner zahllosen Patienten und gehörte zu den wenigen, die überlebten.«
»Sicher dank Eurer ärztlichen Kunst.«
Sangios Augenlid flatterte abermals. »Oh, nein, Cirurgicus! Ich ließ ihm genau die Pflege angedeihen, die auch meine anderen Patienten bekamen. Ich muss gestehen, es ist mir bis heute ein Rätsel, wieso er überlebte und die anderen nicht. Oder, wenn Ihr so wollt: Warum meine Maßnahmen nur bei ihm wirkten. Man könnte auch sagen, warum meine Maßnahmen überhaupt nicht wirkten, weil es der reine Zufall war, dass Montella genas.« Er griff zum Wasserkrug und verdünnte seinen Wein. »Wollt Ihr auch, Cirurgicus?«
»Ja, bitte, ich möchte einen klaren Kopf behalten.«
»Den können wir in diesen Zeiten alle gebrauchen.«
»Darf ich fragen, Dottore, welche Maßnahmen Ihr traft, um die Pestkranken zu behandeln?«
»Aber sicher. Schließlich ist das der Hauptgrund Eures Besuchs, habe ich Recht?« Sangio wartete die Antwort nicht ab, sondern redete weiter. »Was ich tat, war wenig genug. Es fällt den Jüngern meiner Zunft zwar schwer, es zuzugeben, aber ich spreche es dennoch aus: Die Wissenschaft hat bis heute kein wirklich sicheres Mittel gegen die Pest gefunden. Wenn wir nicht unter uns wären, würde jetzt ein Aufheulen meine Worte begleiten, dennoch ist es meine felsenfeste Überzeugung: In der Therapie stochern wir Ärzte noch immer wie die Schiffer mit der Stange im Nebel. Andererseits: Vielleicht ist es auch ganz richtig, unsere Hilflosigkeit nicht an die große Glocke zu hängen, die Patienten hätten sonst überhaupt keine Hoffnung mehr.«
Da Vitus schwieg, trank Sangio einen Schluck verdünnten Weines. »Aber Ihr fragtet nach meinen Maßnahmen, Cirurgicus. Sie sind schnell aufgezählt: Am wichtigsten scheint mir zunächst die Vereinzelung des Patienten. Denn wird diese nicht vorgenommen, können weitere Menschen angesteckt werden. Ein erster Erfolg ist also nicht die Heilung des Kranken, sondern der Schutz seiner Familie. Zugegeben, nur eine vorbeugende Maßnahme. Anschließend erhält der Patient von mir ein sanftes Abführmittel, etwa Essigkraut, das für seine purgierende Wirkung bekannt ist.«
Vitus trank ebenfalls einen Schluck aus seinem Glas. Der Wein war jetzt leichter und löschte gleichzeitig den Durst. »Ich nehme an, Ihr wollt damit das Gift aus dem Körper treiben und so die Eukrasie der Säfte wiederherstellen?«
Das Augenlid flatterte. »Genau das ist der Grund. Wobei ich darauf achte, nicht zu starke Mittel einzusetzen. Sie könnten den Leib zu sehr schwächen. Wie überhaupt meine ganzen Heilbemühungen darauf abzielen, den Körper des Kranken zu stärken, damit er aus eigener Kraft die Geißel besiegen kann. Ich verordne Schwitzkuren gegen das Fieber und leichte Kost wie Hühnerbrühe und Gemüse. Auf keinen Fall fettes Fleisch, weil es den Verdauungstrakt zu stark belastet.«
»Was Ihr sagt, Dottore, klingt einleuchtend. Doch scheint die Pest viele Gesichter zu haben. Bei meiner verstorbenen Braut war eines der ersten Zeichen …«
»Eure Braut starb an der Geißel? Wie furchtbar. Ich weiß, wie Ihr gelitten haben müsst, denn auch ich verlor viele meiner Angehörigen durch den schwarzen Tod. Ihr habt mein ganzes Mitgefühl!«
»Danke, Dottore. Ja, es war eine schwere Zeit für mich, und sie liegt noch gar nicht so lange zurück. Im letzten Jahr war es, als sie starb. Was ich sagen wollte: Bei Arlette war es anders, eines der ersten Krankheitszeichen war Durchfall, so dass ich ihr einen stopfenden Trank verabfolgen musste. Später dann gab ich ihr mehrfach einen Weißdornaufguss zur Stärkung des Herzens. Wie Ihr seht, bin auch ich der Meinung, man solle alles tun, um den Körper des Kranken zu kräftigen. Sagt, wie sind Eure Erfahrungen mit dem Aderlass?«
Sangio nippte an seinem Glas. »Grundsätzlich ein probates Mittel, Cirurgicus, allerdings habe ich manchmal den Eindruck, dass meine verehrten Kollegen gar zu schnell von ihm Gebrauch machen. Kaum hat der Patient gesagt, wo es zwickt, spritzt schon das Blut in die Schüssel. Wird die Prozedur dann auch noch häufig wiederholt, blutet der arme Mensch regelrecht aus und stirbt daran – und nicht an der eigentlichen Krankheit. Hat der Patient aber zu hohen Druck in den Adern, ist der Aderlass eine Erleichterung und
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