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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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sich durch Fieber, schwarzfaulen Zungenbelag und Beulenbildung zeigt, und zwingt den Körper zu Tode, jedenfalls fast immer. Meiner Schätzung nach überleben nur fünf von hundert Befallenen den Angriff der Pestilenz. Auch ich habe meinen Teil abbekommen, wie Ihr sicher an meinem flatternden Auge bemerkt habt.«
    »Nanu?«, wunderte sich Vitus. »Was hat Euer Lidmuskel mit dem schwarzen Tod zu tun?«
    Sangio stand auf und begann auf dem schweren Orientteppich hin und her zu wandern. Bei den Spitzbogenfenstern, durch die mittlerweile schon das Abendlicht hereinfiel, hielt er inne. »Zunächst nichts. Indirekt aber schon. Es war vor drei Jahren in den letzten Tagen der Heimsuchung. Tausende Tote hatten meine Kollegen und ich bereits auf die Friedhofsinsel schaffen lassen, und die Geißel lag wie ein Tier in den letzten Zuckungen. Das spiegelte sich, wie ich glaube, auch in den Körpern der Verstorbenen wider. Vor mir lag ein Mann, der so tot war, wie ein Mann nur tot sein kann, und dennoch begann sich plötzlich sein linkes Lid zu bewegen – direkt nachdem ich ihm die Augen geschlossen hatte. Ich starrte wie gebannt darauf und konnte es nicht glauben. Handelte es sich nur um die unwillkürliche Auswirkung eines Reizes, war es vielleicht der Beginn des
Rigor mortis
oder gar eine Unerklärlichkeit zwischen Leben und Tod?
    Während meine Gedanken noch kreisten, hörte das Flattern plötzlich auf. Der Mund des Toten grinste höhnisch, jedenfalls bildete ich mir das ein, und im gleichen Augenblick begann mein eigenes Augenlid zu zittern. Gerade so, als habe der Tote mich angesteckt. Irgendetwas war von ihm auf mich übergegangen, und ich bin sicher, der schwarze Tod hatte dabei seine Hände im Spiel. Zu gern hätte er auch mich in seine Klauen bekommen, aber er hatte die Kraft nicht mehr. Er hatte sich über Wochen und Monate ausgetobt, und nun war es an ihm zu sterben. Dennoch gelang es ihm noch, mich über das Lidflattern anzustecken. Am nächsten Tag gab es keinen einzigen Pesttoten in ganz Venedig mehr, ein glücklicher Umstand, den zu genießen ich kaum Zeit fand, denn ich rechnete damit, dass nach dem Flattern meines Auges auch andere Körperteile von der Geißel befallen werden würden. Doch gottlob geschah nichts dergleichen.«
    Sangio trat wieder an den Tisch und setzte sich.
    Vitus sagte: »Vielleicht ist ja alles ganz harmlos zu erklären, Dottore. Bedenkt: Auch das Gähnen ist ansteckend, hat aber zweifellos nichts mit der Pest zu tun. Ebenso wie das Lachen. Ich denke, ich kann Euch beruhigen. Und die Tatsache, dass mittlerweile drei Jahre vergangen sind und Ihr noch immer nicht erkrankt seid, mag Balsam für Eure Gedanken sein.«
    Sangio lächelte flüchtig. »Ich danke Euch für Eure Worte. Sie tun mir gut.«
    »Wahrscheinlich werdet Ihr niemals an der Pest erkranken, denn bis zum heutigen Tage seid Ihr es ja auch nicht. Sicher hat Euer Körper im Laufe der Jahre besondere Abwehrkräfte gebildet. Gelegenheit dazu hatte er ja mehr als genug, denn wie ich weiß, standet Ihr bei der Bekämpfung so mancher Seuche in der vordersten Reihe.«
    »Vielleicht, lieber Kollege, vielleicht. Aber ich glaube eher, dass meine Schutzausrüstung dafür verantwortlich ist. Es handelt sich dabei um die übliche Kleidung der venezianischen Pestärzte: Maske, Mantel und so weiter. Wenn Ihr wollt, führe ich sie Euch gerne vor.«
    Vitus winkte ab. »Das ist sehr liebenswürdig von Euch, aber ich fürchte, ich habe Eure Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen. Die Sonne geht bald unter, ich muss mich verabschieden.«
    »Oh, das ist schade.« Sangios Augenlid flatterte kurz. »Ich hatte gehofft, Ihr würdet mit mir zu Abend speisen. Ihr müsst wissen, dass ich ein ziemliches Einsiedlerleben führe. Meine Frau starb schon vor Jahren, die Söhne sind aus dem Haus, die Töchter verheiratet. Und mein Patientenstamm wird auch immer kleiner.«
    Vitus erhob sich. »Es tut mir Leid, Dottore. Ich muss wirklich gehen. Meine Freunde warten sicher schon auf mich, und ich möchte nicht, dass sie sich sorgen. Wenn Ihr erlaubt, komme ich morgen zur selben Zeit wieder, und wir setzen unser anregendes Gespräch fort.«
    Sangio strahlte. »Das ist ein Wort!« Seine Hand hob sich wie von selbst zum Augenlid, konnte diesmal aber kein Flattern feststellen. »Einverstanden, Cirurgicus. Ich freue mich auf Euch.«
    »Und ich mich auf Euch.«
     
    Vierundzwanzig Stunden später saß Vitus wieder an der gleichen Stelle. Um nicht gar zu sehr gegen

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