Die Mission des Wanderchirurgen
Warum? Ich denke, es liegt an dem Wasser, in dem der Fötus liegt. Die Flüssigkeit wirkt wie eine undurchdringliche Schutzmauer, die kein einziger Miasmapartikel durchdringen kann. Ihr mögt es für unwissenschaftlich halten oder nicht, aber ich habe die Kräuter in meiner Pestmaske mit solchem Fruchtwasser getränkt.«
Sangio trat an einen hohen Schrank, öffnete ihn und holte seine Pestmaske hervor. Es war ein Apparat von seltsamem Äußeren – eine Maske mit zwei Augenlöchern und einem schnabelartigen Fortsatz, der in seiner Form an eine Rabenkrähe erinnerte. In dem Fortsatz steckte, wie er demonstrierte, unter den Atmungslöchern ein Knäuel aus den verschiedensten Kräutern. »Jeder Pestarzt schwört auf seine eigene Mischung«, erklärte er dazu. »Ich für mein Teil nehme Lorbeer, Wacholder, Pinie, Lärche und Tanne. Das Mischungsverhältnis beträgt bei Lorbeer und Lärche jeweils ein Eintel Teil, bei den drei anderen Pflanzen jeweils zwei Eintel Teile. Die Verbindung aller Kräuter muss sehr innig sein, wobei ich, wie gesagt, das gesamte Knäuel noch einmal in Fruchtwasser tauche, es trocknen lasse und erst dann in den Schnabel stopfe. Die Maske in ihrer Gesamtheit, das ist selbstverständlich, muss wie angegossen sitzen, damit die Miasmen nicht am Rande eindringen können.«
Vitus roch an den Kräutern. Er spürte einen intensiven Duft nach Frische, Herbheit und Wald.
»Die Brille muss mindestens genauso gut abdichten wie die Maske«, fuhr Sangio fort. »Seht, sie besitzt deshalb an der Seite Lederstücke, die sich eng an die Haut schmiegen.«
»Ich sehe es«, sagte Vitus.
Sangio legte Maske und Brille beiseite und holte ein knapp geschnittenes Lederhemd und eine ebensolche Hose hervor. »Das ist meine Unterkleidung, gut ansitzend, um die Schweißlöcher in der Haut, durch die verderbliche Miasmen eindringen könnten, hermetisch abzudichten. Darüber trage ich diesen langen Überwurf, dazu lederne Handschuhe. Die Stiefel sind aus demselben Material. So vermeide ich während der Behandlung jegliche Berührung mit der Luft.«
»Es muss sehr anstrengend sein, den ganzen Tag in dieser schweren Kleidung herumzulaufen«, sagte Vitus. »Nützt sie denn wenigstens etwas?«
Der Doktor seufzte. »Ihr glaubt nicht, wie oft ich mir selbst diese Frage schon gestellt habe. Wenn man bedenkt, wie viele Pestärzte allein anno 1576 bei uns ein Opfer der Geißel wurden, mag man den Sinn der Kleidung durchaus in Zweifel ziehen. Andererseits: Niemand vermag die Frage zu beantworten, ob ohne den Schutzanzug nicht noch viel mehr Kollegen gestorben wären. Auch ist er einfach eine dingliche Barriere zwischen der Pestis und dem eigenen Körper, überdies eine Abwehr vor zudringlichen Erkrankten und Verwandten, die sich nicht scheuen, sich an den Arzt zu klammern – schreiend, gestikulierend und um Hilfe flehend.«
Sangio fuhr sich mit der Hand ans Augenlid, stellte aber fest, dass es nicht flatterte. »Überhaupt muss gesagt werden, dass die alles verderbende Seuche eine Verrohung der Menschen nach sich zieht. Ich habe erlebt, dass eine Mutter es ablehnte, sich an das Krankenbett ihres eigenen Kindes zu setzen, ich habe gesehen, wie ein Gatte seine Gemahlin vor die Tür warf, weil er annahm, sie sei befallen, ich habe ohnmächtig dabeigestanden, als Bettler und Herumtreiber durch die Stadt strichen und die Todgeweihten bestahlen. Wenn alles stirbt, sogar Hunde und Katzen und die übrigen Haustiere, ist es mit den Lehren Jesu Christi nicht mehr weit her. Nicht nur wir Ärzte hatten immerfort Angst, auch die Herren des Klerus, was dazu führte, dass Hunderte armer Sünder die Sterbesakramente nicht mehr bekamen.
Schon wenige Tage nach seinem Ausbruch, mein lieber Cirurgicus, wurde der Pesthauch zum Sturm. Es war wie anno 1348, als die Seuche
La Serenissima
überzog: Räte, Richter und andere Persönlichkeiten wurden ebenso dahingerafft wie Kaufleute, Handwerker oder Tagelöhner. Jung und Alt, Arm und Reich, Gebildet und Ungebildet starben gleichermaßen. Der schwarze Tod machte keinen Unterschied zwischen braven Bürgern und Säufern, Fressern, Prassern und üblem Gelichter. Bald quollen die Straßen über vor Leichen, jedes Haus schien welche auszustoßen, und die Totengräber kamen mit der Arbeit nicht nach. Einige der Bedauernswerten sperrte man in den eigenen Mauern ein, wartete, bis sie tot waren, und verscharrte sie dann unter den Dielen ihrer Behausung. Aber nicht nur dort, auch am Wegesrand, an Kreuzungen, an
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