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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Vitus, der es seinem Gastgeber gleichtun und eine Schinkenscheibe in seinen Wein eintauchen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Das würdet Ihr für mich machen?«
    »Aber selbstverständlich, es wird mir ein Vergnügen sein. Doch lasst uns erst zu Ende essen und trinken. Salute!«
    »Salute, Dottore!«
     
    Noch in derselben Stunde erhielt Vitus das Empfehlungsschreiben und verabschiedete sich auf das Herzlichste von Doktor Maurizio Sangio, einem der wenigen Pestärzte Venedigs, welche die Seuche anno 76 überlebt hatten. Einen Tag später fügte er seinen Aufzeichnungen über den schwarzen Tod weitere Gedanken hinzu:
    Kontor des Kaufmanns Giancarlo Montella zu Venedig,
Mittwoch, 9. September
    Seit meiner letzten Eintragung sind zehn Tage vergangen. In der Zwischenzeit hatte ich zwei überaus interessante Gespräche mit einem Pestarzt namens Doktor Maurizio Sangio. Er hat die Seuche vor drei Jahren hautnah erlebt und war in der Lage, mir auf das Lebhafteste die schrecklichen Ereignisse von damals zu schildern. Am nachhaltigsten beeindruckte mich das Chaos, in dem La Serenissima seinerzeit versank. Die Toten zählten nach Zehntausenden. Eine Behandlung der Kranken war selten oder gar nicht möglich, zumal die Ärzte, wie Sangio berichtete, auch noch uneins untereinander waren. Die einen behaupteten, die Ursache der Geißel sei in den Pestausdünstungen der Lagune zu sehen, andere waren der Auffassung, die Miasmen seien per Schiff übers Meer gekommen. Wenn die Doktoren schon in dieser Hinsicht miteinander stritten, um wie viel weniger einig mochten sie wohl bei der Anwendung lindernder Arzneien gewesen sein?
    Ich selbst mag zumindest an die erste der zwei Möglichkeiten nicht glauben. Die zweite scheint mir denkbar, ist es doch nicht auszuschließen, dass Ratten als todbringende Mitfahrer die Markusstadt erreichten. In diesem Zusammenhang erfuhr ich eine interessante Beobachtung von Doktor Sangio: Er behauptete, ein Merkmal für flächendeckende Verseuchungen sei die Hausratte; die Wanderratte dagegen würde eher da zu finden sein, wo nur Seuchennester aufträten. Wenn das stimmt, was hat das dann zu bedeuten? Verbreiten die Wanderratten eine Pestis, die weniger stark ist, da sie nicht ganze Ländereien überzieht? Die Antwort kann nur nein lauten, denn die Sterblichkeit ist bei begrenzten Ausbrüchen nicht weniger hoch. Haben die Hausratten vielleicht einen größeren Aktionsradius als ihre Artgenossen vom Lande? Abermals nein. Das Gegenteil dürfte der Fall sein.
    Ich gebe zu, dass ich mit meinem Latein ziemlich am Ende war, als ich zu diesem Ergebnis kam. Dann jedoch fiel mir ein, dass die Lösung manchmal verblüffend einfach ist. Vielleicht verhält es sich auch hier so: Ich stellte mir vor, beide Rattenarten könnten die Pestis gleichermaßen verbreiten. Doch auf dem Lande, wo die Bevölkerung abgeschiedener lebt, würde der Ansteckungsvorgang früher abgeschlossen sein, einfach aus Ermangelung von weiteren Opfern. In der Stadt hingegen fände die gefräßige Geißel immer neue Beute. Einer neunköpfigen Hydra gleich würde sie wieder und wieder zuschlagen. Überall, und selbst dort, wo man glaubte, sie getötet zu haben, erwüchse ihr ein neuer Kopf. Endlich dann, total überfressen, ginge sie nach Monaten ein – viel später als auf dem Lande.
    Ich sprach mit dem Magister über meine Thesen, und er hielt sie zumindest nicht für unmöglich. Allerdings fragte er, welchen Nutzen sie mir für meinen Kampf gegen die Seuche brächten, und hatte mich damit wieder unsanft auf den Boden der Tatsachen geholt. Abermals war ich nicht weitergekommen. Was nützen mir die schönsten Verbreitungstheorien, wenn ich nicht weiß, was es mit Rattus rattus auf sich hat?
    Immerhin hatte mein Freund noch einen Einfall, auf den ich niemals gekommen wäre: Er erinnerte sich daran, dass meine geliebte Arlette kurz vor Ausbruch ihrer Krankheit von Flöhen gebissen worden war. Kaum hatte er es gesagt, standen mir die Bilder wieder vor Augen, so deutlich, als hätte sich alles erst gestern zugetragen. Im Golden Galley , einem heruntergekommenen Gasthaus, war es gewesen, und ich hatte die juckenden Bisse mit Farnkraut behandelt, da mir nichts anderes zur Verfügung stand. Später dann, als meine Geliebte schon von der Seuche geschlagen war, hatte ich an ebenjenen Bissstellen nekrotische Läsionen konstatieren müssen.
    Flöhe als Überbringer der Pest? Vor mir tut sich ein neues Feld auf, das mit meinen Rattenthesen nichts

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