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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Uferbefestigungen – kein Platz, an dem nicht früher oder später Leichen begraben wurden, wobei manche der Jammergestalten noch nicht einmal tot waren; sie wurden einfach bei lebendigem Leibe in Erdlöcher geworfen, aus Angst vor der Ansteckung. Andere, und das waren noch die Glücklichsten, wurden zur Friedhofsinsel hinausgefahren, wo sie in Massengräbern ihre letzte Ruhe fanden. Ja, es war eine grausame Zeit. Zahllose Palazzi waren herrenlos geworden und luden förmlich zum Diebstahl ein, doch insgesamt wurde nur wenig entwendet. Jedermann, selbst die übelsten Langfinger, schien wie gelähmt in jenen Tagen.
    Viele meiner Kollegen vertraten die Auffassung, der tödliche Pesthauch sei aus der Lagune gestiegen, doch andere, darunter auch ich, glaubten eher, die Geißel sei per Schiff zu uns gekommen. Wir stellten die Stadt unter Quarantäne, kein Erkrankter durfte mehr einreisen, keiner mehr hinaus – und das unter der Androhung, anderenfalls auf die Galeeren zu kommen. Aber trotz all dieser Bemühungen breitete die Seuche sich wie ein Lauffeuer aus, nicht zuletzt, weil niemand die beschlossenen Maßnahmen kontrollierte. Es waren einfach zu viele Männer weggestorben. Auch die strenge Verordnung, nur noch sauberes Trinkwasser zu verwenden, wurde tagtäglich tausendfach missachtet, und dies, obwohl jeder in der Bevölkerung weiß, dass bestimmte Brunnen, wie die beiden neben der Kirche Sant’Angelo Raffaele liegenden, extra zu diesem Zweck gestiftet wurden. Quacksalber und Scharlatane erlebten eine Blütezeit. Angst und Verzweiflung der Menschen ausnutzend, versprachen sie Heilung über Nacht, verkauften für teures Geld Amulette und angebliche Reliquien verschiedenster Heiliger.«
    Sangio fuhr sich abermals über das Augenlid, und wieder flatterte es nicht. Er setzte seine Rede fort: »Alles in allem gab es nichts, was in diesen Monaten nicht gestorben wäre. Ja, es gibt darüber hinaus Stimmen, die behaupten, dass sogar die Pflanzen getötet worden wären. Dass ich selbst zu den Überlebenden zählte, ist für mich heute noch ein Wunder, und ich danke Gott dem Allmächtigen bei jedem Gebet dafür. Mein Glück jedoch war unzähliger anderer Leid. Einer von ihnen, sein Name war Amadeo Rezzione, vermachte mir sterbend sein Anwesen, so dass Ihr, Cirurgicus, heute in einem Haus zu Gast seid, das nicht meinen Namen trägt, sondern Palazzo Rezzione genannt wird.«
    Nachdem Sangio geendet hatte, blieb Vitus noch für eine Weile stumm. Zu niederschmetternd war das, was der Arzt ihm berichtet hatte. Nur langsam vermochte er seine Gedanken zu ordnen. Der Pestarzt hatte die Schreckensbilder so lebensecht gezeichnet, dass man glaubte, direkt davor zu stehen.
    Vitus sprach bewusst langsam: »Ihr sagtet eben, Dottore, dass es nichts gab, was seinerzeit nicht starb, selbst die Pflanzen hätten dazugehört. Könnt Ihr mir verraten, wie es mit den Ratten stand?«
    »Den Ratten?« Sangio zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Nun, auch sie starben. Allerdings glaube ich nicht, dass es in so starkem Maße geschah wie bei den Menschen und den Haustieren. Warum fragt Ihr?«
    »Bevor ich Euch antworte, eine zweite Frage: Kamen die Einwohner von Sant’Erasmo zur Pestzeit nach Venedig, um die Abtritte zu entleeren?«
    »Nein, natürlich nicht. Jeder Bewohner der Laguneninseln war froh, wenn er bleiben konnte, wo er war.«
    »Ich frage Euch deshalb, weil Giovanni, einer der Fährleute von Sant’Erasmo, die Behauptung aufstellte, nur dort, wo Ratten seien, trete auch die Pest auf. Sant’Erasmo sei anno sechsundsiebzig rattenfrei und deshalb auch pestfrei geblieben.«
    »Ach so. Nun, das würde ich eher den Quarantänemaßnahmen zuschreiben, Cirurgicus, doch immerhin, auch mir ist bekannt, dass häufig dort, wo die Seuche auftritt, Ratten in großer Zahl vorkommen. Ja, ich weiß sogar, dass es zweierlei Arten von Ratten gibt: die Hausratte und die Wanderratte. Während die Erste in Städten, Dörfern und Siedlungen anzutreffen ist, wo sie sich bevorzugt in Speichern, Kellern und Vorratslagern aufhält, begegnet man der Zweiten eher auf dem Land. Mit ihr werden vorwiegend kleinere Pestwellen in Verbindung gebracht. Die Hausratte dagegen hält sich dort auf, wo der alles überziehende Tod Ernte hält. Wenn Ihr mich fragt, ist das aber eher Zufall und hat weiter nichts zu bedeuten. Kommt, lasst uns zurück zu Wein und Schinken gehen.« Sangio nahm Vitus beim Arm und geleitete ihn hinaus.
    Vitus folgte seinem Gastgeber hinauf ins oberste

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