Die Mission des Wanderchirurgen
geht mit Gott.« Vitus’ Abschiedsgruß klang versöhnlich, denn im Grunde waren die Geißler fromme, sendungsbewusste Männer, die mit ihrem Tun nur Gutes erreichen wollten. Edoardo beeilte sich, den Ochsen die Peitsche zu geben, und der Karren zog wieder an.
Bald waren Arnulf und seine Flagellanten aus dem Sichtfeld verschwunden, und der Bauer atmete auf. »
Grazie
, Cirurgicus«, sagte er. »Ich bin noch ganz durcheinander. Meint Ihr, die … die … nun, Ihr wisst schon, was ich meine … kommt über uns alle?«
»Schwer zu sagen. Es gibt Visionen, die Wahrheit geworden sind, es gibt aber auch solche, die sich nicht erfüllt haben. Ich will zu Arnulfs Gunsten annehmen, dass er wirklich geträumt hat, was er erzählte – und gleichzeitig hoffen, dass sein Traum nur ein Hirngespinst war. Die Geißler sind im Übrigen harmlose Gotteseiferer. Wer sich mit Kirchengeschichte beschäftigt hat, weiß, dass sie schon um 1350, zu Zeiten der Großen Pest, in Europa auftraten. Sie züchtigten sich gern an den Mauern der Gotteshäuser und glaubten wohl, wenn ihr Blut dagegenspritzte, müsse der Allmächtige ein Einsehen haben und die Seuche ersticken. Ob diese Art der Kasteiung allerdings wirklich etwas nützt, steht dahin. Wenn du meine persönliche Meinung hören willst: Ich denke, dass ein inniges Gebet dieselbe Wirkung erzielt wie eine Selbstgeißelung, vielleicht sogar mehr. So oder so: Alles liegt in Gottes Hand. Er bestimmt die Abläufe der Welt und die eines jeden einzelnen Menschen.«
Der Magister, der mit Enano noch immer zwischen den Schweinen saß, verkündete von hinten: »Und eben hat er für uns bestimmt, dass da vorne die ersten Häuser von Mestro auftauchen. Das Dörfchen hatte ich mir größer vorgestellt. Kaum zu glauben, dass dort Markt gehalten wird. Immerhin, es ist ein Meilenstein auf unserem Weg nach Padua.«
Edoardo stieß die Peitschenspitze in die Hinterteile seiner Ochsen, um sie zu einer schnelleren Gangart zu bewegen. Doch er tat es eher mechanisch, denn ihm ging das Wort »Pest« nicht aus dem Kopf. »Und Ihr seid sicher, dass Gebete genauso helfen, damit sie uns verschont, die …?«, wandte er sich an Vitus.
»Wenn Gott will, sicher. Sag einmal, Edoardo, es fällt mir schon die ganze Zeit auf: Warum sprichst du eigentlich das Wort ›Pest‹ nicht aus?«
»Oh, ich …« Der Bauer zog ein Gesicht, als hätte man ihn in der Speisekammer ertappt. »Ich … nun, alle sagen, wenn man nicht dran denkt, dann kommt sie auch nicht, und aussprechen soll man ihren Namen erst recht nicht. Ja, genau. Das wäre der rechte Weg, sie zu vermeiden.«
»Hat das euer Pfarrer auch gesagt?«
»Pater Franco? Nein, der meint, wir sollen beten.«
»Siehst du, das sage ich auch. Nun sorge dich nicht länger. Da vorn an der Markteinfriedung kannst du uns absetzen. Und noch einmal vielen Dank fürs Mitnehmen.«
»Nein, nein, ich muss mich bedanken, Cirurgicus. Wenn Ihr nicht gewesen wäret, hätte ich kaum noch Ferkel zu verkaufen, und ich könnte meiner Frau nicht wieder unter die Augen treten. Sie ist sehr streng, müsst Ihr wissen.«
Vitus klopfte Edoardo noch einmal auf die Schulter und sprang vom Karren. Der Magister und Enano taten es ihm gleich, und der kleine Gelehrte sagte: »Grüße dein Weib und richte ihr aus, sie habe einen prachtvollen Ehemann.«
Bevor Edoardo ganz verstanden hatte, waren die drei Freunde verschwunden.
Die
Locanda Tozzi,
eine Absteige am Dorfrand, die sich Herberge nannte, verdiente ihren Namen kaum. Doch sie war billig, und das war entscheidend. Vitus, der Magister und Enano saßen vor dem Gebäude und hielten Vesper. Auf einem dreibeinigen Tischchen hatten sie alles ausgebreitet, was sie an Essbarem auf dem Markt erstanden hatten: grobes Brot, Käse und ein paar Oliven. Der Magister, von jeher ein Mann, der den Freuden der Tafel zugetan war, hatte auch ein paar der herrlich duftenden Trüffel erwerben wollen, aber Vitus hatte dem einen Riegel vorgeschoben. Die Pilze waren einfach zu teuer, ebenso wie das Tröpfchen Wein, nach dem der kleine Gelehrte ersatzweise verlangt hatte. So begnügten sie sich mit Wasser, von dem sie dafür umso reichlicher tranken.
Das blieb nicht ohne Folgen, und wenig später erhob sich Vitus, um hinter die Locanda zu treten und sich im angrenzenden Buschwerk zu erleichtern. Während er sich seiner Beschäftigung widmete, hörte er plötzlich leisen Gesang. Stimmen, die mal lauter, mal leiser zu ihm herüberklangen, gleichermaßen
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