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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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nach England schreiben und Euch selbstverständlich ein paar Exemplare Eures Werkes schicken!« Dann drückte er den kleinen Gelehrten an sich und küsste ihn ebenfalls. »
Amico mio,
gebt Acht auf Euch!«
    »Das werden wir tun.« Vitus und der Magister schritten hinaus auf die Piazza vor der Universität und atmeten erst einmal tief durch. »Mit jedem Abschied stirbt ein Stück in uns«, seufzte der Magister. »Ich werde Padua immer in guter Erinnerung behalten.«
    Da es noch Vormittag war und die Sonne mild vom Himmel schien, beschlossen die Freunde, vor ihrer Abreise das zu tun, wozu sie die ganze Zeit nicht gekommen waren: die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten bei Tage zu bestaunen. Sie besuchten die Basilika des heiligen Antonius, schlenderten über den Prato della Valle, blickten zum Reiterstandbild des Gattamelata empor und besichtigten die Capella degli Scrovegni mit ihren wunderschönen Freskenmalereien von Giotto. Nachdem sie sich am Stand einer Garküche gestärkt hatten, schlugen sie den Weg zu ihrer Studentenunterkunft ein. Kurz bevor sie dort ankamen, begegnete ihnen ein lang aufgeschossener Bursche mit Vollmondgesicht, Fischmündchen und feuerroten Haaren.
    »Sieh mal«, sagte der Magister, »wenn der Kerl nicht so groß wäre, würde ich sagen, es ist Enano, der Zwerg. Aber er kann es nicht sein, es sei denn, er wäre innerhalb kürzester Zeit um vier Fuß gewachsen.«
    »He, ihr Gacken, ich bin’s wirklich!«, krähte der Kerl plötzlich mit einer Fistelstimme, die haargenau der des Winzlings glich.
    Verblüfft schauten die Freunde näher hin und erkannten, dass es tatsächlich Enano war. Der Knirps stand auf Stelzen, was auch seinen ruckartigen Gang erklärte. »Ich bin’s wirklich!«, krähte er nochmals. »Hab Spazierhölzer drunter un’n extra langen Übermann!«
    In der Tat war sein himmelblaues Gewand verlängert worden, so dass es fast bis zum Boden hinabreichte.
    Der Magister blinzelte. »Was, um alles in der Welt, willst du mit den Gehstangen?«
    »Na, walzen doch! Wollt mal so richtich grandig sein!«
    »Komm runter, so kannst du kaum bis nach Genua gehen. Wo hast du die Stelzen nur her?«
    »Selbst trafackt! Bei Romano un Massima. Is Esche, beste Esche!« Enano zog sein Gewand hoch, um die Beinverlängerer sichtbar zu machen. Sie wiesen jeweils drei Stege in unterschiedlicher Tritthöhe auf und waren, wie jedermann bestätigt hätte, kunstvoll gefertigt. Das Holz schien in Olivenöl gekocht, denn es zeigte den dafür typischen Schimmer.
    Der Zwerg, der jetzt ein Riese war, ließ seinen Übermann wieder fallen und stakste mehrmals um die beiden Freunde herum, wobei er aus luftiger Höhe auf sie herabblicken konnte. Ungläubig schüttelte der Magister sein Haupt und sagte:
    »Das also hast du die ganze Zeit gemacht, während Vitus und ich an der Universität Forschung und Lehre vorangetrieben haben. Hast dir Stelzen gebaut. Nun ja, sicher begegnen wir auf unserem Weg irgendwelchen Gauklern oder Spielleuten, denen du sie dann schenken kannst.«
    »No, no, nix, nix, nein, nein!«
    »Nein? Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass du weiter als hundert Schritte auf den Stöcken gehen kannst!«
    Auch Vitus schaltete sich ein und versuchte, den Wicht umzustimmen, doch seine Worte stießen ebenfalls auf taube Ohren. Enano war felsenfest entschlossen, auf seinen neuen Gehwerkzeugen zu laufen.
    So zogen sie gemeinsam los. Ein ungleiches Trio, bei dem der Magister nun der Kleinste war.
     
    Am Abend desselben Tages mussten Vitus und der Magister eingestehen, dass sie den Zwerg unterschätzt hatten. Meile für Meile hatte der Winzling sich auf seinen Gehstangen vorwärts bewegt, die Zähnchen zusammengebissen und dabei sogar noch Zeit gefunden, in seinem seltsamen Rotwelsch den einen oder anderen Witz zu reißen. Je länger sie unterwegs waren, desto klarer wurde ihnen, dass es dem Zwerg bei alledem keineswegs nur um eine Leibesübung ging, sondern vielmehr um das Gefühl, die Welt nicht mehr aus dem Blickwinkel eines großen Hundes erleben zu müssen.
    Kurz vor Einbruch der Dämmerung erreichten sie ein abgelegenes Bauernhaus, von dem sie zunächst annahmen, es sei verlassen, doch als sie eintraten, stellten sie fest, dass eine alte Frau darin hauste. Das Mütterchen hieß Amalia und entpuppte sich, nachdem es sich von dem Schreck über den unerwarteten Besuch erholt hatte, als eine reizende Gastgeberin. Amalia schaffte das wenige heran, was sie an Essbarem hatte, und das wenige erwies sich als

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