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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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überaus köstlich: Es waren Trüffeln, herrlich duftende, prachtvoll gewachsene Exemplare, die sie mit einer alten Klinge in dünne Scheiben schnitt und in eine Pfanne mit Olivenöl gab.
    Der Magister war in seinem Element.
»Carnis silvae«,
meinte er schwelgend, »das Fleisch des Waldes! Als hättet Ihr es geahnt, Mütterchen, was einem müden Wanderer wie mir wieder auf die Beine hilft.« Er griff zu seinem Felleisen, öffnete die Klappe und zauberte einen Ziegenschlauch mit Rotem hervor, den er Vitus unter die Nase hielt. »Venezischer Wein! Ich habe ihn gestern heimlich gekauft, nachdem der Professor uns für unsere Dienste ausgezahlt hatte. Wusste ja nicht, ob du damit einverstanden sein würdest.«
    »Das wäre ich nicht gewesen, du Unkraut«, entgegnete Vitus. »Das bisschen Geld, das wir haben, sollten wir für die Schiffspassage aufheben.«
    »Richtig, richtig. Und deshalb habe ich dich nicht gefragt.« Schwungvoll goss der kleine Gelehrte die einzigen zwei Holzbecher voll, die Amalias Haushalt zu bieten hatte, schielte bedauernd auf den nun schon halb leeren Schlauch und rief:
»Salute, cheers
und
assusso!
So jung kommen wir nicht wieder zusammen.«
    Amalia kicherte und entblößte einen einsamen Zahn im Oberkiefer. Züchtig wie ein junges Mädchen nippte sie an einem der Becher. Dann erhob sie sich, um eine zweite Portion gebratener Trüffeln herzurichten. Nachdem sie damit fertig war, kippte sie den Pfanneninhalt abermals in die große Tonschüssel, aus der sich alle bedienten.
    Der Zwerg, der wieder Normalgröße angenommen hatte, hielt wacker mit. »Lecker, lecker, die Fanglinge!«, meinte er fröhlich kauend, »hab im Askunesischen immer Herbsttrompeten geschmaust, aber die war’n nich so klöstich, lange nich so klöstich.«
    Amalia bedankte sich für das Lob und fragte, wo denn das Land liege, das er als askunesisch bezeichne. Bereitwillig gab der Kleine Auskunft, und alsbald entwickelte sich eine lebhafte Unterhaltung zwischen den beiden. Enano taute immer mehr auf, so dass Vitus und der Magister Dinge über ihn erfuhren, die sie noch nie zuvor gehört hatten: Der Zwerg war als ältestes Kind eines Kohlenbrenners im Hochtaunus aufgewachsen. Vierzehn Geschwister hatte er gehabt, und alle waren normalwüchsig zur Welt gekommen. Als das Jüngste geboren wurde, hatte Enano schon sein siebzehntes Lebensjahr vollendet, und als es fünf war, hatte es seinen ältesten Bruder bereits an Körpergröße übertroffen. Den Zwerg hatte das anfangs nicht gestört, so wie bei den anderen davor auch nicht, aber dieses Jüngste, ein Junge, zeigte fast vom ersten Tage an, wie grausam Kinder sein können. Es stachelte seine Geschwister an, Enano zu hänseln, immer wieder, jeden Tag, und irgendwann machten alle mit. Enano hatte sich nicht wehren können, weder mit Hieben noch mit Worten. Er war der Niedertracht einfach ausgeliefert. Seine Eltern, hart arbeitende Leute, hatten ihm nicht helfen können, vielleicht auch nicht wollen. So hatte er inmitten seiner Familie als Ausgestoßener gelebt.
    Zu den wenigen Lichtblicken in seinem Leben hatte gehört, wenn der Vater ihn lobte: dafür, dass er das luftgetrocknete Holz für den Meiler besonders dicht gesetzt hatte, dafür, dass er den Feuerschacht besonders gut errichtet und dass er die Holzmassen besonders sorgfältig abgedeckt hatte. Ja, Enano beherrschte das Handwerk des Köhlers aufs Genaueste und erzielte jedes Mal große Mengen von Holzkohle in bester Güte. Mit den Geheimnissen des Feuers kannte er sich aus wie kein Zweiter.
    Doch sein Vater war der Einzige gewesen, der ihn hin und wieder lobte, und dieser seltene Zuspruch konnte beileibe nicht die Kübel von Spott aufwiegen, die täglich über ihm ausgekippt wurden. So war er eines Tages fortgegangen in die nächstgelegene Stadt. Er hatte gedacht, dort würde man ihm freundlicher begegnen, aber das Gegenteil war der Fall. Man hetzte, höhnte und lästerte genauso wie daheim über ihn, und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, wurden manche Buben sogar handgreiflich. Sie schubsten ihn, betasteten und schlugen ihn und wollten sich schier ausschütten vor Lachen, wenn er zappelnd und wimmernd am Boden lag.
    Da hatte er sich den Rädelsführer gemerkt und dafür gesorgt, dass die Behausung seiner Eltern in der nächsten Nacht abbrannte. Niemand wäre auch nur im Entferntesten darauf gekommen, dass es Brandstiftung war. Und niemand merkte, dass es fortan immer diejenigen traf, die am Tag zuvor besonders

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