Die Mission des Wanderchirurgen
heraus. Er spielte ein paar Töne, legte das Instrument dann aber wieder zurück, weil es, wie er sagte, nicht zu lange den Sonnenstrahlen ausgesetzt sein dürfe. Da er insgesamt einen verlässlichen Eindruck machte, gestatteten ihm die Freunde, mit ihnen weiterzureisen. Und als sie schließlich zusammen aufbrachen, sagte der Riese Enano:
»Wui, wui, schad, dass der Guido-Gack keine Schallerei nich macht. ’s würd sich wohl knäbbiger walzen!«
Am frühen Nachmittag machten sie gemeinsam Halt. Trotz der schwächeren Novembersonne waren sie gehörig ins Schwitzen geraten; eine Pause war deshalb hochwillkommen. Sie setzten sich im Kreis nieder und begannen sich zu stärken. Fabio nahm seine Radschlossmuskete vom Rücken und legte sie schussbereit vor sich hin, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihr Ladezustand nach wie vor einwandfrei war und er im Fall einer Gefahr nur noch den Deckel der Zündpfanne entfernen, den Hahn absenken und den Abzughebel betätigen musste.
»Glaubst du, hier treibt sich übles Gelichter herum?«, fragte der Magister kauend. »Am helllichten Tag?«
»Gelichter?« Der Händler lachte und nahm das Barett mit der Fasanenfeder vom Kopf. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn, die, bei einem Mann seines Alters nicht ungewöhnlich, schon sehr hoch war. »Nicht, dass ich wüsste. Aber wie heißt es so schön: Gelegenheit macht Diebe. Gut möglich, dass angesichts meiner Schätze so manchem lange Finger wachsen. Und wenn das der Fall ist, macht es ganz schnell ›piff, paff‹, und der Bursche hat ein Loch im Pelz. Wäre nicht das erste Mal, dass ich auf diese Weise deutlich ›No‹ sagen muss, wenn jemand sich zu sehr für meine Ladung interessiert.«
Enanos Fischmündchen, eben noch emsig kauend, blieb stehen. »Da hinten, ihr Gacken, ich späh ein Pupperl, ’ne Trawallerin, ’ne Schickse, kommt aus’m Gesprüss, das dicke Suppengrün!«
Die Blicke aller folgten der Richtung seiner »Sehlinge«, die wie gebannt ein Mädchen beobachteten, das sich vorsichtig aus einem nahe gelegenen Gehölz auf sie zu bewegte.
Der Magister blinzelte. »In der Tat, es scheint sich um eine Frau zu handeln, vielleicht sogar um eine Nonne, wenn ich mir ihr Gewand so anschaue. Allerdings spricht die einfache Haube dagegen. Das ist eher die Kopfbedeckung einer Magd. Doch warum weiterrätseln? Das Geschöpf kommt direkt auf uns zu, gleich werden wir mehr wissen.«
Die Frau war mittlerweile so nahe, dass ihre Erscheinung sich gut abschätzen ließ. Sie hatte kohlrabenschwarzes Haar, das in Büscheln unter der Haube hervorquoll, und Augen von ebensolcher Farbe. Ihr Gesicht war schmal und wirkte energisch, wozu eine ausgeprägte Hakennase beitrug. Im Gegensatz zu der Nase war ihr Mund sehr weiblich, und dasselbe konnte auch von ihrer Figur gesagt werden. Sie wirkte üppig, vorne wie hinten, und die Nonnentracht, die sie tatsächlich trug, spannte sich mächtig über ihrem Leib. Als sie sprach, wurde deutlich, dass sie auch über gute Zähne verfügte: »
Buon giorno
, ihr Herren«, sagte sie mit klarer Stimme. »Ihr habt nicht zufällig einen Kanten Brot und einen Schluck Wasser übrig?«
Die Männer griffen automatisch nach etwas Essbarem, nur der weitgereiste Fabio nicht. Er antwortete: »Sag uns erst einmal deinen Namen, damit wir wissen, wem wir etwas geben.«
»Ich heiße Antonella.«
»So, so. Antonella. Ein hübscher Name. Weißt du eigentlich, Antonella, dass du uns Rätsel aufgibst?«
»Ich? Wieso?« Die Frau schlug die Augen nieder.
»Weil ich mich frage, was jemanden wie dich dazu bewegt, allein auf Wanderschaft zu gehen! Was bringt dich dazu, die Tracht einer Nonne zu tragen? Was machst du ohne Gepäck hier draußen?«
»Ich … ich …« Die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen. Dann, plötzlich, schlug sie die Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen. »Mein Vater … oh, es ist so furchtbar …« Wieder schluchzte Antonella auf und erzeugte damit etwas, das auch der hartherzigste Mann empfunden hätte: Mitleid.
»Wui, knick dich ein, Trawallerin«, fistelte der Zwerg, »da is noch Platz, un ’n Stück Bäckling wär auch noch da.«
Dankbar setzte Antonella sich neben Enano, weiter heulend, aber auch schon in ein Fladenbrot beißend. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie zwischen Essen und Trinken und Schluchzen ihre Geschichte erzählt hatte:
Sie war die Tochter eines Bürstenbinders, eines alten Mannes, mit dem sie über Land gezogen war.
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