Die Mission des Wanderchirurgen
niemand Lust hatte, die Kleider wieder abzulegen. Doch Vitus blieb hart, und schließlich bot die ganze Gruppe ein Bild, das dem einer Affenhorde glich. Gegenseitig fahndeten sie an ihren Körpern nach Bissstellen: Vitus und der Magister, Fabio und Guido, Enano und Antonella. Wobei das letzte Paar sehr taktvoll zu Werke ging – einerseits, weil Antonella eine Frau war, andererseits, weil der Zwerg einen Buckel hatte.
Wie sich herausstellte, hatten mehrere von ihnen Wanzen- und Flohstiche aufzuweisen, doch gottlob waren alle alt und stammten keinesfalls von der vergangenen Nacht. Vitus fiel ein Stein vom Herzen, und er schielte zum Magister hinüber. Der kleine Gelehrte wirkte ebenfalls sehr erleichtert. Er straffte sich und rief Antonella zu:
»Na, Frau Köchin, wie steht’s?«
Enano fiel ein: »Ja, wie strömt’s? Der Speisfang is leer. Ich schnapp Luftklöß alleweil!«
Antonella lachte. Ganz offensichtlich fand sie die Ausdrucksweise des ritterlichen Zwergs erheiternd. »Wartet, ihr Burschen, es geht gleich los!«
Fabio rückte zwei große Holzschüsseln zurecht, die aus der Unerschöpflichkeit seines Warenangebots stammten, und brummte vergnügt: »Eine warme Suppe ist das Schönste auf der Welt, Freunde. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Gib einem, der beim Spiel sein Vermögen verloren hat, eine warme Suppe, und er wird getröstet sein; gib zweien, die sich geschäftlich nicht einigen können, eine warme Suppe, und sie werden zusammenkommen; gib dreien, die sich spinnefeind sind, eine warme Suppe, und sie werden sich vertragen. Ja, ein dampfendes Gericht bewirkt manchmal mehr als tausend Worte!«
»Wenn es denn erst mal fertig ist«, bemerkte der Magister trocken. Er schwang unternehmungslustig seinen Löffel, und die anderen taten es ihm nach. Fabio war nicht im Mindesten gekränkt, sondern rief:
»Nur Geduld, Freunde.
Pazienza, pazienza!
Was glaubt ihr wohl, warum ich nicht nur eine, sondern gleich zwei Schüsseln hervorgekramt habe? Damit wir uns alle gleichzeitig bedienen können! Und nun:
buon appetito!«
Er tauchte seinen Löffel in die heiße Brühe, fischte darin herum, bis er sicher war, auch genug Pilz- und Kürbisfleisch zu bekommen, und pustete mehrmals mit geschlossenen Augen. Dann, fast andächtig, schlürfte er die Suppe in sich hinein. »Aaaaahh! Antonella, du kochst genauso gut wie Miabella, mein Weib in Padua.«
»Wui, wui,
sì, sì!
So moll wie die molle Mrs. Melrose auf dem Grüntal-Kastell!«
»Danke«, sagte die Bürstenbinderin sichtlich bewegt. Sie hatte den Ausruf des Zwergs, der ihre Kochkünste mit denen der Mamsell auf Greenvale Castle verglichen hatte, zwar nicht verstanden, aber das tat ihrer Freude keinen Abbruch.
Fabio rief: »Ach, mein Weib und die Kinder, wie fehlen sie mir!«
Guido fragte: »Wie viele Kinder hast du denn?«
Fabio nahm den zweiten Löffel voll. »Nun, die Frage ist ganz einfach zu beantworten: Ich fahre seit achtzehn Jahren über die Lande, also müssten es eigentlich achtzehn Sprösslinge sein. Man stelle sich vor: anderthalb Dutzend kleine Fabios und Fabias.
Bambini e bambine!
Alle haben übrigens im November Geburtstag.«
»Im November? Wie kommt denn das?«, wollte Antonella wissen. Familienfragen interessierten sie.
Der Überlandfahrer war schon beim fünften oder sechsten Löffel. »Ganz einfach: Kurz vor dem Weihnachtsfest bin ich stets von der Reise zurück, bleibe zwei Monate, mache in dieser Zeit meiner Frau ein Kind, sause wieder los und … oh, äh, was ist denn, Antonella?«
Die Gesichtszüge der jungen Frau waren für einen Augenblick erstarrt. Doch nun trug sie wieder ihre normale Miene zur Schau. Sie schwieg, was den Händler nicht gerade beruhigte.
»Habe ich etwas Falsches gesagt? Wenn ja, tut’s mir Leid.
Scusi! Mi dispiace!
Ich meinte nur …«
Der Magister wiegte sein Haupt und sagte:
»Et semel emissum volat irrevocabile verbum.«
»Was heißt denn das nun wieder?«, fragte Fabio verständnislos.
»Und einmal entsandt, flieht unwiderruflich das Wort«, deklamierte der kleine Gelehrte. »Horaz. Aber mach dir nichts draus, ich kenne das. Habe in meinem Leben auch schon häufiger Wörter ausgesprochen, die ich am liebsten sofort wieder eingefangen hätte.«
»Wui, wui, mach dir nix draus, Abrakadabramann.«
Vitus schaltete sich ein. »Fabio hat es nicht so gemeint, Antonella. Er ist im Jahr zehn Monate unterwegs und nur zwei Monate zu Hause. Wann sollte er es denn sonst mit seiner Frau, äh, nun ja, du
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