Die Mission des Wanderchirurgen
die man zur Mittagszeit aufs Feld hinaustragen konnte, anschließend kümmerte sie sich um die Abendmahlzeit. So stand sie auch heute an der Feuerstelle, rührte in einem kräftigen Bohneneintopf und beobachtete dabei ihre älteste Tochter, die unruhig hin und her lief.
»Ich weiß wirklich nicht, welches Kleid ich anziehen soll«, klagte Nina. »Das Blaue ist zu kurz und das Grüne hat zwei große Flicken.«
»Aber, Kind, die Flicken sind doch schon eine Ewigkeit drauf, wieso stören sie dich plötzlich?«
»Sie sind nicht einmal grün wie das Kleid, sondern braun.«
»Ja, ja, ich weiß. Schließlich habe ich sie selbst draufgenäht. Komm, Nina, zieh es an, es gibt keinen Grund, es nicht zu tun, wo du doch nur zum Klosterunterricht willst.«
»Vielleicht sollte ich doch das rosafarbene Kleid nehmen, der Kragen hat recht hübsche Spitzen. Allerdings müssten sie nochmals geweißt und neu gestärkt werden.«
»Was, das Sonntagskleid? An einem Donnerstag?« Ana hörte auf, die Suppe zu rühren, und übergab den schweren Löffel an Conchita und Blanca, zwei von Ninas jüngeren Schwestern. Sie ging auf ihre älteste Tochter zu und legte ihr die Hand auf den Arm. »Niemand kennt dich besser als ich«, sagte sie ruhig. »Was ist los mit dir?«
Nina blickte zur Seite und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was soll schon los sein? Mir ist heute Morgen zum ersten Mal klar geworden, dass ich nichts Vernünftiges anzuziehen habe. Kein einziges Kleid mit modisch hinuntergezogenem Mieder, nicht einmal einen Reifrock.«
»Aber wie kommst du denn darauf? Niemand in unserer Familie besitzt ein so teures Kleidungsstück und auch niemand von den Nachbarn.«
Nina druckste herum. »Ja, ja, ich weiß. Schon gut, Mutter, manchmal möchte ich eben hübsch aussehen, verstehst du das nicht?«
»Doch, das verstehe ich«, antwortete Ana und dachte: Du siehst doch hübsch aus. So hübsch, dass dein Vater sich schon Sorgen macht, weil alle Burschen im Dorf dir hinterherpfeifen. Laut sagte sie: »Dann zieh das blaue Kleid an. Es ist zwar etwas verblichen, sitzt aber sehr gut. Dass es etwas kurz ist, lässt sich nicht ändern. Ich habe den Saum schon so weit wie möglich ausgelassen.«
»Ja, Mutter, du hast Recht.«
Nina wirkte alles andere als glücklich.
»Nun.« Pater Thomas schaute ernst, aber nicht unfreundlich auf seine Schülerinnen und Schüler herab. »Wir haben heute einen Gast unter uns, der selber einmal hier im Kloster die Schulbank drückte: einen weit gereisten Cirurgicus, der heute in einem Schloss auf der Britannischen Insel lebt, sich aber in Anlehnung an seine Herkunft noch immer Vitus von Campodios nennt.«
Alle Augen wandten sich Vitus zu, der sich in die letzte Reihe verdrückt hatte und nun um ein Lächeln bemüht war. »Lasst euch durch mich nicht stören«, sagte er, und selbstverständlich sagte er es umsonst. Er war ein Fremder für die Schüler und als solcher der Mittelpunkt ihrer Neugier. Auch Nina, die Einzige, die ihn von früher her kannte, musterte ihn eingehend. Er stellte fest, dass sie dunkle, fast schwarze Pupillen hatte, die von langen, seidigen Wimpern umrahmt wurden.
Pater Thomas fuhr fort: »Ich will euch heute eine Latein-Lektion erteilen und wie schon beim letzten Mal über die a-Deklination, die o-Deklination und über die konsonantische Deklination sprechen.«
Ein leises Stöhnen ging durch die Reihen, doch Thomas achtete nicht darauf. Er begann: »Nehmen wir zunächst das Wort
schola
, weil es nahe liegt. Es heißt, wie euch bekannt ist, Schule. Ich möchte nun wissen, wie es sich im Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ dekliniert. Lonso, bitte.«
Lonso, ein blasser Neunjähriger, sprang auf und leierte herunter:
»Schola, scholae, scholae, scholam.«
»Richtig. Und der Ablativ?«
»Schola.«
»Und wie sieht es mit dem Plural aus?«
»
Scholae, scholarum, scholis, scholas, scholis.«
»Gut.« Der hagere Gottesmann blickte in die Runde. »Nun zur o-Deklination am Beispiel des Wortes
domus,
Haus.«
Ein anderer Schüler sprang auf und ratterte los:
»Domus, domi, domo, domum, domo.«
»Richtig. Und weiter?«
»Domi, domorum, domis, domos, domis.«
Thomas zeigte sich zufrieden, wenn auch die Leistung der Schüler nicht sonderlich hoch einzuschätzen war, da er die Deklinationsübungen schon seit ein paar Wochen durchführen ließ. Er leitete über zu Substantiven von neutralem Geschlecht, ließ hier ebenfalls ein paar Wörter durchdeklinieren und kam dann zur
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