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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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konsonantischen Deklination, wobei er zunächst darauf hinwies, dass diese in Konsonantenstämme, i-Stämme und eine gemischte Deklination zerfällt.
»Furor, agger, frater«,
führte er aus, »deklinieren sich im Genitiv auf
is,
also:
furoris, aggeris, fratris
und so weiter. Im Dativ … Im Plural … Nun zu den i-Stämmen. Bei den i-Stämmen …«
    Spätestens jetzt waren die Schüler nicht mehr bei der Sache und sehnten das Ende der Lektion herbei.
    Vitus ging es nicht anders. Er unterdrückte ein Gähnen. Hatte Latein ihn früher auch immer so gelangweilt? Er konnte sich nicht daran erinnern. Gar nicht langweilig dagegen fand er den Anblick von Nina. Natürlich war sie fast noch ein Kind, trotzdem sah sie in ihrem einfachen blauen Kleid sehr ansehnlich aus, das musste er einräumen. Außerordentlich ansehnlich sogar. Ihre olivfarbene Haut und ihr schwarzes Haar, das sie straff nach hinten gekämmt trug, standen in wunderschönem Gegensatz zueinander. Ihr Haar glänzte wie … er suchte nach einem Vergleich … ja, wie lackiert, und ihr Mund war wirklich sehr rot. Ob sie mit ein wenig Schminke nachgeholfen hatte? Nein, wohl nicht. Orantes hätte sicher etwas dagegen gehabt. Das Blau ihres Kleides war eigentlich kein Himmelblau, wie man es häufiger auf dem Lande sah, es ging mehr ins Indigo und wechselte sich mit helleren Stufen ab.
    Wie aus weiter Ferne hörte er unvermittelt Pater Thomas’ Stimme: »… wird uns der Cirurgicus sicher sagen können.«
    »Wie? Wie bitte?«
    Der hagere Gottesmann lächelte. »Es ging um den
Genitivus pluralis
von
carmen
, niemand scheint ihn zu kennen. Da habe ich dich als meinen alten Schüler gefragt.«
    »Äh, ja, natürlich.« Vitus überlegte fieberhaft.
Carmen
, das bedeutete Lied, Gesang, aber auch Gedicht oder Formel, nur nützte ihm dieses Wissen bei der Deklination wenig. Hieß es nun
carminum
oder
carminorum
? »Nun, ich muss sagen …«
    »Carminum«,
rief Nina, der die Antwort im letzten Augenblick eingefallen war.
    »Richtig, meine Tochter, obwohl ich dich nicht gefragt hatte.«
    »Verzeihung, Vater.« Nina schlug züchtig die Augen nieder, wohl wissend, dass dieser ihr nicht lange zürnen konnte.
    »Entschuldige dich lieber beim Cirurgicus, der die Antwort sicher gerade geben wollte – und auch gegeben hätte, wenn du nicht so vorschnell gewesen wärst.«
    »Jawohl, Vater.« Nina blickte auf und sah Vitus unverwandt an. »Es tut mir Leid, Cirurgicus.«
    Vitus krächzte irgendetwas, das er selber nicht verstand.
    »Und nun zur u-Deklination.« Pater Thomas war bereit, den kleinen Zwischenfall zu vergessen. »Die u-Deklination sieht in der Regel ein
ium
im
Genitivus Pluralis
vor, wie wir am Beispiel von
turrium
oder
marium
sehen können …«
    Der Unterricht ging weiter. Er war wie zäher Leim.
    Aber alles in diesem Leben hat ein Ende, und so war es auch mit der Lektion von Pater Thomas. Aufatmend strebten die Schüler ins Freie, wo sie sich alsbald zerstreuten. Auch Vitus hatte sich von seinem alten Lehrer verabschiedet und trat auf den Innenhof hinaus. Es war jetzt um die Mittagszeit, und die Märzsonne sandte ihre ersten wärmenden Strahlen herab. Ein Hauch Frühling lag in der Luft.
    »Warst du sehr ärgerlich auf mich?«
    Vitus fuhr herum. Hinter ihm stand Nina und lächelte ihn an. Großer Gott, wie hübsch sie war! »Ärgerlich?«, hörte er sich fragen. »Worauf?«
    »Weil ich dich unterbrochen habe.«
    »Ach so. Tja …« Er überlegte kurz, ob er sie in dem Glauben belassen sollte, entschied sich dann aber für die Wahrheit. »Du hast mich nicht unterbrochen. Um ehrlich zu sein: Ich wusste die Antwort nicht. Diese verzwickten Genitiv-Endungen konnte ich mir noch nie merken. Habe sie von jeher verwechselt. Genau genommen war ich sogar ziemlich froh, dass du mich vor der Bloßstellung bewahrt hast.«
    Nina lachte noch immer. In ihren dunklen Pupillen leuchteten jetzt ein paar bernsteinfarbene Sprenkel auf. »Dann kann ich ja auch ehrlich sein: Ich habe gespürt, dass du es nicht weißt, und wollte dir helfen.« Wie selbstverständlich trat sie einen Schritt vor, hakte sich bei ihm unter und steuerte das Nordtor an.
    Er musste mitgehen, ob er wollte oder nicht. »Das … das war sehr nett von dir.«
    Sie antwortete nicht, sondern passierte mit ihm das Tor und schlug den Weg hangabwärts in Richtung Punta de la Cruz ein.
    Er spürte sie neben sich, wie sie sich geschmeidig seinen Schritten anpasste. Zwiespältige Gefühle bemächtigten sich seiner.

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