Die Mission des Wanderchirurgen
bestattet zu werden. Sie wollte nicht neben ihrem Mann auf dem Dorffriedhof liegen.«
Vitus Blick löste sich von dem Ring und wanderte wieder zu den schlichten Kreuzen. »Warum das?«
»Genau weiß ich es nicht. Ich nehme aber an, dass sie sich deiner Mutter sehr verbunden fühlte. Nina erzählte mir, sie sei täglich in den Garten gegangen, um an ihrem Grab zu beten.«
»Nina?«
»Ja, Nina. Carlos Orantes’ Tochter. Sie kannte die alte Stoffweberin recht gut, weshalb sie mir auch im Kampf gegen Tonias Brustfraß half.«
»Was? Das tat sie?«
»Ja, sie ist eine erstaunliche junge Frau. Sie assistierte mir bei der Exstirpation einer Geschwulst in der rechten Brust. Es war eine blutige, wenig ansprechende Operation, die sich zu alledem nicht als erfolgreich erweisen sollte. Aber sie hielt sich großartig.«
»Wie habt Ihr den Eingriff vorgenommen, Pater?« Vitus’ Interesse war erwacht.
»Das erzähle ich dir, wenn du einverstanden bist, auf dem Rückweg. Die Nässe kriecht mir doch allmählich in die Knochen, und ich sehne mich nach einem trockenen Plätzchen.«
»Das geht mir ganz genauso«, pflichtete der kleine Gelehrte bei. »
Adolescentia deferbuit,
nicht wahr? Wir werden alle nicht jünger.«
Vitus fiel der Abschied vom Grab seiner Mutter nicht leicht, doch er sagte sich, dass er jederzeit wiederkommen könne, und willigte ein. Thomas erhob die rechte Hand, segnete beide Ruhestätten, dann machten sie sich auf den Rückmarsch.
»Um deine Frage aufzugreifen, Vitus«, sagte er kurze Zeit später, »ich stand vor der Entscheidung, entweder mit der Fasszange zu arbeiten oder eine vollständige Amputation vorzunehmen. Nach reiflicher Überlegung nahm ich die Zange, denn ich wollte nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Vielleicht hätte ich doch die große Lösung wählen und kreuzweise unternadeln sollen, zumal ich später in den Achselhöhlen der Kranken weitere Knoten erfühlte, aber hinterher ist man immer klüger. Ich kann nur sagen, ich war an den Tagen danach sehr niedergeschlagen.«
»Das kann ich gut verstehen, Pater. Ich habe in den vergangenen Jahren auch so manchen Patienten verloren. Es war jedes Mal schrecklich.«
»Nichts ist für einen Arzt schlimmer, als nicht helfen zu können. Wenn Nina nicht gewesen wäre, hätte ich mich noch elender gefühlt. Sie bestand darauf, Tonias Pflege zu übernehmen. Das sei wichtiger als die Arbeit, die auf ihres Vaters Hof anfiele, sagte sie. Und auch wichtiger als die Schule.«
»Wichtiger als die Schule?« Vitus blieb stehen. Er stellte sich Nina vor, wie er sie von früher her kannte. Ihr sanftes Madonnengesicht mit den großen Augen passte nicht recht zu dem entschlossenen Handeln, von dem Pater Thomas berichtete. »Heißt das, sie erscheint im Kloster und nimmt an Eurem Unterricht teil, Pater?«
»Ja, das tut sie. Regelmäßig sogar. Dreimal in der Woche. Sie ist eine sehr begabte Schülerin, und das in jedem Fach. Fleißig ist sie obendrein. Du kannst dich selbst davon überzeugen. Morgen ist Dienstag, dann kommt sie. Ich glaube, sie würde sich freuen, dich wiederzusehen.«
»Ich weiß nicht recht. Wenn ich die Lektionen verfolge, fühlt sie sich bestimmt gehemmt – und die anderen Schüler ebenso.«
Pater Thomas ließ nicht locker. »Höre, Vitus: Letztendlich verdankst du es Nina, dass du hier bist. Sie war die Erste, der Tonia ihr Geheimnis anvertraute, woraufhin sie prompt zu mir gelaufen kam und die ganze Sache weitererzählte.«
»Das war Nina?«
»Ja, Nina. Ich sagte ihr, das Geständnis der Stoffweberin sei von größter Bedeutung für dich, und sie antwortete nur, das wisse sie, schließlich kenne sie dich.«
»Das tut sie. Nun, vielleicht komme ich demnächst doch einmal zum Unterricht.«
[home]
Die Schülerin Nina
»Oh, du Dummer, du verstehst wirklich nichts von Frauen.
Ich weine doch nur aus Freude. Bitte sage noch einmal,
dass du mich liebst.«
Z eitig am Morgen, noch vor Tagesanbruch, herrschte im Haus des Landmannes Carlos Orantes stets große Geschäftigkeit, was nicht zuletzt an seinen vielen Kindern lag. Nach einer kurzen Stärkung pflegte der Bauer den Hof zu verlassen und auf die Felder zu gehen, begleitet von seinen kleinen Söhnen Gago und Pedro, denn im Frühjahr wurde draußen jede Hand gebraucht. Die Erde musste von Steinen und Disteln befreit werden, damit sie unter den Pflug kommen konnte.
Währenddessen verrichtete Ana, sein Weib, wie gewohnt die Hausarbeit. Als Erstes bereitete sie eine Speise vor,
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