Die Mission des Wanderchirurgen
Die Art, wie sie zusammen einhergingen, kam der eines Paares gleich, aber sie waren keines. Trotzdem war es sehr angenehm. Irgendwie aufregend. Wenn er doch nur nicht immer so schüchtern wäre. Schüchtern? Unsinn. Sie war Orantes’ Tochter, ein halbes Kind noch, und er war Cirurgicus. Außerdem kannten sie sich gut, weil er sich vor vier Jahren auf dem Hof des Landmannes vor den Häschern der Inquisition verkrochen hatte. Was also war schon dabei, wenn sie so gingen.
Um irgendetwas zu sagen, meinte er nach einer Weile: »Du scheinst eine ungewöhnlich gute Schülerin zu sein«, und weil er im selben Augenblick merkte, wie unpassend, ja, lehrerhaft der Satz auf sie wirken musste, fügte er hastig hinzu: »Es ist gut, Latein zu können. Es erschließt sich einem eine völlig neue Welt – die Welt der Literatur, die Welt des Wissens.«
»Ja«, sagte sie, »seitdem ich leidlich Latein kann, lese ich sehr viel. Pater Thomas ist so nett und leiht mir öfter Werke aus, die ich mir in einem Nebenraum des Skriptoriums ansehen darf.«
»Was für Bücher liest du denn?«
»Am liebsten solche über Medizin.«
Vitus staunte. »Medizin? Das ist aber sehr ungewöhnlich für ein Mäd …, ich meine, für eine junge Frau.«
»Wieso? Warum soll sich eine Frau nicht für solche Dinge interessieren? Nur weil sie eine Frau ist?«
»Nein, nein. Nun … ich finde es sehr schön, dass du dich mit so etwas beschäftigst.« Vitus merkte selbst, wie lahm das, was er sagte, klang.
»Das Problem ist allerdings, dass ich immer nur die Hälfte verstehe, obwohl ich mir doch so viel Mühe mit dem Latein gebe.«
Vitus lachte. Seitdem die Sprache auf sein Gebiet gekommen war, fühlte er sich wohler. »Das Wissen um die Wortbedeutung ist das eine, das Verstehen der Zusammenhänge das andere. Wenn ich in Pater Thomas seinerzeit nicht so einen meisterhaften Lehrer gehabt hätte, wäre aus mir wohl nichts geworden.«
»Pater Thomas hat keine Zeit, mir Privatunterricht in Medizin zu geben. Er ist mit seinen eigenen Forschungen mehr als genug beschäftigt.« Ninas Stimme war anzuhören, wie sehr sie diesen Umstand bedauerte.
»Nun, ja, ich … ich könnte …«
»Ja?« Plötzlich erhöhte sich der Druck von Ninas Arm. Sie blieb stehen. »Was könntest du?«
»Tja, wenn es dir nichts ausmacht und du mit mir vorlieb nehmen willst, dann würde ich die Sache übernehmen.«
»Das würdest du?«
»Ja.«
»Oh, Vitus!« Ninas Augen blitzten. Eher er sich’s versah, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Dann, als sei sie über ihre eigene Handlung erschrocken, drehte sie sich um und lief mit wehenden Röcken davon.
Er stand da und sah ihr nach. Ihr Kuss brannte noch auf seiner Wange. Er berühte die Stelle mit den Fingerspitzen. Ja, sie hatte ihn tatsächlich geküsst. Nun ja, im Überschwang der Dankbarkeit. Sicher hatte es nichts zu bedeuten.
Verwirrt trat er den Rückweg zum Kloster an.
Vor Vitus’ und des Magisters Zelle ertönte Fußgetrappel. Der kleine Gelehrte, der auf seiner Pritsche vor sich hindöste, schlug die Augen auf und blinzelte. »Die Brüder eilen zur Komplet, es muss sechs Uhr sein.« Er seufzte. »Sosehr ich die Beschaulichkeit des Klosterlebens schätze, an die Stundengebete und die Gepflogenheit, spätestens um sieben mit der Nachtruhe zu beginnen, werde ich mich nie gewöhnen.«
»Du bist eben nicht zum Mönch geboren.«
Der Magister gähnte. »Ich hätte nicht übel Lust, jetzt eine Fonda in Punta de la Cruz aufzusuchen und dort den Rebensaft auf seinen Geschmack hin zu überprüfen.«
»Du weißt, dass das nicht geht. Wir sind Gast im Kloster und müssen uns seinen Regeln unterwerfen. Sei froh, dass man von uns nicht die Teilnahme an den Horen verlangt.«
»Das bin ich auch. Andererseits regt sich mein Tatendrang. Ich kann nicht tagelang zwischen diesen Mauern hocken und nichts tun. Bei dir ist es etwas anderes. Du sitzt jeden Abend da am Tisch, studierst in dicken Büchern und bereitest dich auf die nächste Lehrstunde für Nina vor. Der Zwerg ist ebenfalls ausgelastet. Er sitzt in seiner Zelle und hat alle Hände voll zu tun, Klein-Nella großzuziehen. Nur ich, ich verkümmere hier.«
Vitus schwieg und blätterte in einem Folianten.
»Ich sagte, ich verkümmere hier.«
»Ja.«
»Ist das alles, was dir dazu einfällt?« Der Magister richtete sich halb beleidigt auf. »Ich möchte beachtet werden! Überhaupt wirkst du in letzter Zeit häufig geistesabwesend. Hast dann
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