Die Mission des Wanderchirurgen
eine Art Nachhilfeunterricht für Gedächtnisschwache dar. Doch zum Singen hatte Gaudeck nach so viel Schwatzerei keine Lust mehr. Er beschloss, die Klinge ihrem ursprünglichen Zweck entsprechend zu verwenden, und begann die Pastete zu zerteilen.
Der Rest des Mahls verlief in angenehmem Schweigen.
Am Nachmittag desselben Tages regnete es in Strömen, doch Vitus wollte es sich nicht nehmen lassen, das Grab seiner Mutter aufzusuchen. Der treue Magister begleitete ihn, und auch Thomas hatte Zeit gefunden mitzukommen. In langen Übermänteln beschritten sie die alten verschlungenen Wege nach Punta de la Cruz. Kurz bevor sie den Ort erreichten, bogen sie in den schmalen Pfad ein, der durch ein Wäldchen führte und schließlich beim Haus der Stoffweberin endete. »Da vorn ist es«, sagte Thomas und zeigte auf eine windschiefe Hütte. »Das Gärtchen liegt nach hinten hinaus.« Sie gingen um das Haus herum und erblickten einen von Wildwuchs überwucherten Flecken Erde. Nur zwei frische Holzkreuze deuteten an, dass sich hier in letzter Zeit eine menschliche Hand zu schaffen gemacht hatte.
Mit klopfendem Herzen trat Vitus näher und las die Inschriften auf den Kreuzen. Die erste lautete TONIA PÉREZ , dann folgten Geburts- und Sterbedatum. Was wird auf dem zweiten Kreuz stehen?, fragte er sich und kniete unwillkürlich nieder. Er las:
LADY JEAN
Geboren in England † 9. Martius A. D. 1556
»Wir kannten das Geburtsdatum und den offiziellen Titel deiner Mutter nicht«, sagte Thomas hinter ihm. »Trotzdem hielten wir ein neues Kreuz für angebracht, nachdem wir die alte Tonia neben ihr zur letzten Ruhe gebettet hatten.«
»Ja«, murmelte Vitus. Er hörte die eigene Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich weiß das genaue Geburtsdatum auch nicht, ich weiß nur, dass meine Mutter anno 1534 zur Welt kam. Aber es ist auch unwichtig.«
Er versuchte, sich Jeans Porträt vor Augen zu führen, doch es gelang ihm nicht richtig. Immerhin hatte sie viel Ähnlichkeit mit Arlette gehabt, und wie Arlettes Äußeres gewesen war, daran erinnerte er sich sehr genau. Einer Eingebung folgend, faltete er die Hände und sprach das Gebet, das er auch am Sarg des alten Abtes Hardinus gesprochen hatte. Es waren unvergängliche Worte, viele hundert Jahre alt, die aus England stammten, so wie er selbst. Und wie Jean, seine Mutter.
»Ewiges Licht, scheine in unsere Herzen,
Ewige Güte, erlöse uns von dem Bösen,
Ewige Weisheit, vertreibe das Dunkel
unserer Unwissenheit,
Ewige Trauer, habe Gnade mit uns,
dass wir mit unserem Herzen, unserem Verstand,
unserer Seele, unserer Kraft Dein Angesicht erkennen
und dass Deine unendliche Gnade
uns zu Deiner Göttlichkeit führt.«
Er erhob sich, die Hände noch immer gefaltet. »Vater im Himmel, lass sie in Frieden ruhen, nimm ihre Seele in Deine starken Arme.«
»Amen«, sagte Thomas. Und auch der Magister brummte: »So ist es, so sei es.«
Der hagere Gottesmann zog sich den Mantel fester um die Schultern. Das Wetter war wirklich schauderhaft. »Ich habe hier noch etwas für dich. Die alte Tonia gab es mir kurz vor ihrem Tod.« Er hielt einen Ring aus Gold in der Hand.
Vitus griff danach und stieß einen Ruf der Überraschung aus. »Ein Siegelring der Collincourts! Er sieht genauso aus wie jener, den ich von meinem Großonkel erhielt. Nur ist er deutlich kleiner.«
»Es dürfte Jeans Ring gewesen sein. Tonia sagte mir, sie habe ihn von der Sterbenden als Geschenk erhalten und über all die Jahre aufbewahrt. Als ich ihr kurz vor ihrem Tod erzählte, dass aus dem Findelkind von damals ein stattlicher junger Arzt geworden ist, der zur Zeit in England auf einem Schloss lebt und sicher irgendwann wieder nach Campodios zurückkommen würde, gab sie mir das Schmuckstück für dich.«
»Der Ring ist sehr schön.« Vitus’ Stimme klang fast andächtig. »Und er ist tatsächlich von meiner Mutter! Ich kann den Schriftzug JEAN winzig klein an der Innenseite erkennen.«
Der Magister brummte: »Verwahre ihn nur gut, altes Unkraut. Irgendwann in deinem Leben wird es vielleicht eine Frau geben, der du ihn an den Finger steckst.«
Vitus schwieg und starrte weiterhin auf das Kleinod.
Pater Thomas schwieg ebenfalls. Ihm wurde allmählich kalt. Er wünschte sich zurück in die Vertrautheit seines Klosters, zurück an die Stätte seiner medizinischen Forschungen. Doch er wollte nicht unhöflich sein, deshalb sagte er: »Die alte Tonia bat mich übrigens kurz vor ihrem Tod, neben deiner Mutter
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