Die Mission des Wanderchirurgen
Der Totenkopf schaut mich so düster an.« Nina machte Anstalten von ihm abzurücken.
»Warte«, sagte er hastig, »die schönsten Zeichnungen habe ich dir noch gar nicht gezeigt. Sie sind aus dem Werk des berühmten Anatomen Andreas Vesalius:
De humani corporis fabrica
, was, wie du wohl weißt,
Über den Bau des menschlichen Körpers
heißt. Das Werk ist von 1543, und wenn du hineinsiehst, wirst du erkennen, welch gewaltigen Fortschritt es seinerzeit darstellte.«
Sie kam wieder etwas näher. Der Duft nach Rosenöl umfing ihn erneut. »Ja«, nickte sie, »die Zeichnungen sind sehr schön. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Man sagt, der große Tizian selbst habe sie angefertigt! Du weißt doch, Tizian, der berühmte italienische Maler.«
»Ich habe von ihm gehört. Pater Thomas erwähnte einmal seinen Namen.« Sie wandte sich jetzt endgültig ab. »Sei mir nicht böse, aber für heute habe ich genug gesehen. Ich möchte nach Hause. Begleitest du mich noch ein Stück?«
»Aber selbstverständlich, warum nicht.«
Es klang viel steifer, als er es meinte.
Bei der nächsten Lektion, Vitus sprach über Heilkräuter, über die Arzneien, die sich daraus herstellen ließen, und die Mengen, in denen sie verabfolgt werden mussten, wirkte Nina abwesend. Im Gegensatz zu sonst hörte sie kaum zu und war nicht bei der Sache.
Schließlich fragte Vitus: »Sag, Nina, ist irgendetwas geschehen? Du bist so anders als sonst.«
»N … nein. Es ist nichts.«
»Nun gut. Zurück zu den arzneilichen Möglichkeiten bei Hautproblemen. Wir unterscheiden trockene und feuchte Ekzeme, Schuppen, Rötungen und ganz allgemein juckende Läsionen. Weißt du, was man unter einer Läsion versteht?«
»Äh, wie?«
»Eine Störung oder Verletzung. Bei allen genannten Schwierigkeiten sollte der Arzt nicht vergessen, was schon die alten Meister wussten: Feuchtes wird mit Trockenem bekämpft und Trockenes mit Feuchtem. Je nachdem kommen dabei saure Molke, Kalkpulver, Wollfett oder Johannisöl zur Anwendung. Wie diese Medikamente gewonnen werden, muss ich nicht lange erklären, es ergibt sich schon aus ihrem Namen. Oder hast du dazu noch eine Frage?«
Nina schwieg.
»Hast du dazu noch eine Frage?«
»Nein, nein, ich habe alles verstanden.«
Vitus war sich nicht sicher, ob das stimmte, fuhr aber fort: »Wichtig bei der Behandlung von Hautproblemen ist auch die richtige Ernährung. Man sollte nicht zu fett und nicht zu viel essen, sondern Gemüse bevorzugen. Andere Arzneien gegen trockene Schuppen sind Kamillenblütenumschläge und Bäder in Eichenrinde. Bei der Kamille geht man wie folgt vor: Man nimmt eine Hand voll Blüten, gibt sie in ein Gefäß und übergießt sie mit einem Becher kochendem Wasser. Nach einer kleinen Weile seiht man sie ab. Mit der übrig gebliebenen Flüssigkeit tränkt man ein Leinentuch, welches man auf die befallenen Stellen legt. Bei der Eichenrinde ist es so: Zwei Hand voll klein geschnittene Eichenrinde und, wenn vorhanden, eine Hand voll Weidenrindenfasern werden mit Wasser übergossen und für die Hälfte einer Stunde gekocht. Sodann seiht man Rinde und Fasern ab und badet die kranke Haut in der verbliebenen Wirkflüssigkeit. Ein anderes probates Mittel, das schon die hochverehrte Hildegard von Bingen empfahl, besteht aus Veilchenöl und Malvenblättern. Die Malvenblätter wurden zuvor in, äh … in Harn gekocht.«
Vitus unterbrach sich und fragte: »Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«
»Doch, ja. Natürlich!«
»Schön. Ich komme nun zu einer Arznei, die in unseren Gefilden kaum erhältlich sein dürfte, aber ich nenne sie trotzdem: Es handelt sich dabei um Sepia. Wahrscheinlich hast du noch niemals davon gehört. Nein? Das dachte ich mir. Sepia ist eine Absonderung vom Tintenfisch. Eine geheime Medizin, die von den Indianern in Neu-Spanien verwendet wird. Sie verdünnen den Stoff mit Wasser und reichern ihn mit Waldhonig an. Die so gewonnene Arznei ist also flüssig. Bei welcher Art von Hautproblemen käme sie damit zur Anwendung? Bei trockenen oder feuchten?«
»Ich … nun, also …«
Vitus wurde es jetzt zu bunt. »Hör mal, Nina«, sagte er, »ich habe heute das Gefühl, als spräche ich gegen eine Wand. Irgendetwas ist doch mit dir. Was hast du? So wie heute warst du doch noch nie!«
Während er sie anstarrte, füllten ihre Augen sich plötzlich mit Tränen. Schrecken durchfuhr ihn. »Großer Gott, du weinst ja!«
Nina schüttelte den Kopf, obwohl ihre Tränen daran keinen Zweifel
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