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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Wechseljahren.«
    »So, an den Wechseljahren.« Wie immer, wenn Nina derartige Themen anschnitt, spürte Vitus leichte Verlegenheit. Er nahm sich zusammen. »Wenn es wirklich daran liegt, wirkt Mönchspfeffer manchmal Wunder. Sollte es schlimmer werden, sage mir Bescheid, dann schaue ich nach ihr. Überhaupt wird es höchste Zeit, deine Familie zu besuchen. Ich bin schon bald zwei Wochen in Campodios und habe mich noch immer nicht gemeldet. Der Magister quengelt auch fast täglich, er würde seinen alten Freund Orantes gern einmal wiedersehen.«
    Nina beschwichtigte ihn, der Druck ihrer Hand verstärkte sich: »Mach dir darüber keine Gedanken. Bei uns zu Hause geht es zur Zeit sowieso drunter und drüber; im Frühjahr steht immer besonders viel Arbeit an.« In Wahrheit aber, sie wusste selbst nicht so genau, warum, hatte sie Sorge, alle Welt könnte ihr ansehen, wie sehr Vitus ihr gefiel und dass sie in ihn … Aber das ging niemanden etwas an. Jedenfalls hatte sie zu Hause noch kein Sterbenswörtchen von ihm erzählt.
    »Wenn du es sagst.« Vorsichtig befreite er seine Hand. »Ich habe noch gleich aussehende Pinzetten, Wundhaken und Sonden. Möchtest du sie sehen?«
    »Ja, gern«, sagte Nina.
    Doch sie klang nicht mehr so begeistert.
     
    »Nachdem wir über die chirurgischen Instrumente und die Vier-Säfte-Lehre ausführlich gesprochen haben, widmen wir uns heute den menschlichen Organen. Am besten wäre es natürlich, wir befänden uns dazu im Sektionssaal einer Universität, denn nichts geht über die Anschauungskraft einer geöffneten Leiche«, sagte Vitus ein paar Tage später.
    »Das verstehe ich«, meinte Nina. »Aber eigentlich bin ich ganz froh, dass ich keine toten Körper zergliedern muss.«
    Wieder saßen sie am großen Lesetisch des Skriptoriums. Nur dass diesmal eine Reihe von starken, mit vielen Illustrationen versehenen Büchern darauf lagen.
    »An Hand der vielen Zeichnungen kann man gut sehen, welch große Entwicklung das Wissen um die Organe in den letzten zweihundert Jahren gemacht hat«, erklärte Vitus und zog ein schweres Werk näher heran. »Sieh mal, hier haben wir es noch mit einer sehr einfachen anatomischen Darstellung zu tun. Das Herz sitzt am falschen Platz und hat die Form einer Rübe. Wenn der Schriftzug COR nicht darin stünde, wüsste man gar nicht, um was es sich handelt.«
    »Wo ist denn die Lunge?«, fragte Nina.
    »Die Lunge liegt wie ein Ball um das Herz. Hier. Eine anatomische Unmöglichkeit. Ebenso wie die fünflappige Leber, die du hier erkennst. Dafür fehlen Nieren und Milz ganz, ebenso wie die Gallenblase und der Magen. Einen solchen Menschen hat es nie gegeben.«
    Er schob das Buch zur Seite und nahm ein neues. »Hier ist eine Abbildung mit einer lateinischen Überschrift:
Figura de situ viscerum.
Weißt du, was das heißt?«
    »Ich denke, schon.« Nina beugte sich zu ihm hinüber, um die alte Frakturschrift besser lesen zu können. Sie kam ihm dabei so nahe, dass ihn ein betörender Hauch von Rosenöl streifte. »Eine Figur über den Sitz des Innersten«, sagte sie.
    »Hm, ja. Genau. Oder, wenn man es etwas freier übersetzen will:
Über die Anordnung der Organe.
Die Lunge umschließt auch hier das Herz wie ein Ball. Ein Fehler, den der Zeichner gewiss auch so meinte, denn er hat PULMO an die Stelle geschrieben. Lass uns zur nächsten Abbildung kommen.«
    »Ja, gut.« Ninas Kopf blieb nah bei ihm.
    »Tja, hm. Hier siehst du ein Situsbild aus dem
Spiegel der Artzeney
von Laurentius Phryesen. Es entstand anno 1517. Du erkennst deutlich die beiden Lungenflügel, darunter das Herz. Galle und Milz sind ebenfalls richtig wiedergegeben, die paarigen Nieren, der Magen und sogar das Zwerchfell. Nur die Leber ist falsch eingezeichnet. Dazu muss man wissen, dass es einen großen linken und rechten Lappen gibt, dazu jeweils einen kleineren.«
    »Ja«, sagte Nina und rümpfte ihre hübsche Nase. »Besonders schön sieht das alles nicht aus.«
    »Nicht schön?« Von dieser Seite hatte er die Anatomie noch nie betrachtet. »Nun, dann wird dir dieser Druck wohl auch nicht zusagen.« Er zeigte auf eine Skelettfigur, die umgeben war von vielen Spruchbändern mit lateinischen Bezeichnungen der einzelnen Knochen. »Sieh nur: Wirbel, Ellen, Speichen und Fingerknöchelchen. Alles noch ein wenig grob, als hätte der Maler nicht sämtliche zweihundertundsechs Knochen unseres Körpers gekannt, aber insgesamt schon sehr beachtlich.«
    »Ich glaube, wir sollten die Lektion jetzt beenden, Vitus.

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