Die Mission des Wanderchirurgen
und stetig. Seine Rechnung war aufgegangen: Antonio hatte Lupos Blut vertragen, wahrscheinlich, weil beide Zwillinge waren.
»Woran denkst du?«
»Oh, verzeih mir, ich war eben ganz weit weg. Ich dachte an Lupo und Antonio, deine Zwillingsbrüder. Bei der Gelegenheit fällt mir ein: Ich soll dich von beiden grüßen. Es geht ihnen gut. Der Magister, der Zwerg, Klein-Nella und ich, wir begegneten den
Artistas unicos
ein paar Tagereisen von hier.«
»Wirklich? Du hast sie gesehen?« Nina klatschte begeistert in die Hände, was zur Folge hatte, dass ihre Finger nicht mehr auf Vitus’ Hand lagen.
Fast tat es ihm Leid, den Gruß ausgerichtet zu haben. »Kommen sie hierher?«
»Nein, sie ziehen in eine andere Richtung.«
»Wieso hast du mir das alles nicht schon längst gesagt?«
»Ich hatte es, ehrlich gesagt, vergessen.«
»Erzähl mir von ihnen!«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie arbeiten noch immer mit Zerrutti zusammen. Maja hatte gerade ein Kind bekommen, als wir auf die Truppe trafen. Pater Ernesto hat es auf den Namen Zerro getauft.«
»Pater Ernesto?«
»Ein Augustinermönch, dem wir auf unserem Marsch begegneten.«
»Nun aber der Reihe nach, Vitus!« Ninas Augen blitzten. »Erzähle der Reihe nach. Ach, ist das aufregend.« Wieder legte sie ihre Hand auf die Seine.
»Und deine medizinische Lektion?«
»Holen wir ein andermal nach!« Sie drückte seine Hand.
Da erzählte er.
»Heute will ich mit dir eine kleine Exkursion in die Vergangenheit machen«, sagte Vitus zwei Tage darauf.
Er sagte es so geheimnisvoll, dass Nina neugierig wurde und fragte: »Eine Studienfahrt in die Vergangenheit? Wie meinst du das?«
»Wart’s nur ab.« Er sortierte eine Zeit lang die Instrumente, die abermals in großer Zahl auf dem Lesetisch lagen, und nahm schließlich zwei spatelförmige Kauter zur Hand. »Fallen dir bei diesen Werkzeugen große Unterschiede auf?«
»Nein, wieso? Sie sehen eigentlich gleich aus. Das eine ist vielleicht ein wenig dunkler, aber sonst fällt mir nichts auf.«
»Und wie alt schätzt du beide?«
Nina verstand nicht gleich. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht ein Jahr? Vielleicht ein paar Jahre?«
Vitus lächelte. Er hatte die erwartete Antwort bekommen. »Nun, das hellere Instrument mag ein paar Jahre alt sein, aber das andere ist ungleich älter. Es ist ein Kauter aus römischer Zeit.«
Nina nahm das Gerät und betrachtete es ehrfurchtsvoll. »Aus römischer Zeit? Kaum zu glauben!«
»Und doch ist es so. Zwischen der Anfertigung beider Instrumente liegen eintausendfünfhundert Jahre. Dennoch sehen sie nahezu gleich aus. Was schließt du daraus?«
»Hm. Dass damals schon genauso wie heute gekautert wurde?«
»Richtig. Mehr noch: Dass damals schon genauso operiert wurde wie heute. In der Mehrzahl aller Fälle jedenfalls.«
»Ich kann’s mir nicht vorstellen! Wieso weiß man eigentlich, dass der dunkle Kauter schon so alt ist? Es steht schließlich nicht dran?«
Vitus lachte. »Eine gute Frage, auf die es aber eine einfache Antwort gibt: In der Kaiserzeit beherrschten die Römer die ganze Welt, auch Europa, und überall, wo sie auftauchten, richteten sie feste Militärlager ein. In diesen wiederum gab es eine Krankenstation, das so genannte Valetudinarium. Manchmal, wenn man gründlich nachforscht, findet man in einem solchen Valetudinarium gut erhaltene, alte Instrumente.«
»Hast du noch mehr davon?«
»Einige. Sie gehören aber nicht mir, sondern dem Kloster, genauer: Pater Thomas. In früheren Jahren war er ein eifriger Sammler.« Vitus nahm zwei weitere Werkzeuge. »Sieh her, dies sind zwei Skalpelle, die nahezu vollständig übereinstimmen. Nur der Griff ist unterschiedlich. Beim römischen Messer ist er flach wie ein Spatel, eine Form, die man häufig antrifft, ebenso wie rechteckige oder runde Querschnitte. Mit diesem eintausendfünfhundert Jahre alten Skalpell hätte ich Gagos Hasenscharte genauso gut operieren können. Woraus zu schließen ist, dass die Römer solche Eingriffe auch tatsächlich vornahmen. Solche und viele andere.«
Nina schwieg beeindruckt.
»Übrigens, was macht Gago? Antonio und Lupo erzählten, es gehe ihm gut.«
»Ja, sehr gut sogar.« Wie selbstverständlich legte sie ihre Hand wieder auf seine. »Es ist lieb von dir, dass du nach ihm fragst. Er wird mit jedem Tag frecher. Alle anderen sind auch wohlauf, nur um Mutter mache ich mir manchmal Sorgen. Sie klagt in letzter Zeit über Leibschmerzen. Sie sagt, es liege an den
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