Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
wieder drei Schritte vor und beugt abermals das Knie. Nach weiteren drei Schritten macht Ihr es ein letztes Mal. In dieser Stellung verharrt Ihr, bis die Königin Euch anspricht. Dies geschieht nicht immer sofort, da Ihre Majestät es schätzt, ihre Besucher einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, bevor die Audienz beginnt.«
    »Das alles hört sich recht kompliziert an.«
    »Das findet Ihr kompliziert?« Jonathan blickte überrascht. Das Zeremoniell war ihm schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er den Gedanken nicht nachvollziehen konnte. »Da hättet Ihr erleben sollen, welches Ritual bei der Vorgängerin Ihrer Majestät jedes Mal an der Tagesordnung war!«
    »Ihr meint die verstorbene Halbschwester der Königin, Maria die, äh … Katholische?« Fast hätte Vitus »Maria die Blutige« gesagt, weil sie im Volk nur unter diesem Namen bekannt war. Maria hatte ein Leben in Abhängigkeit und Grausamkeit geführt. Grausam war sie gewesen, weil sie nicht weniger als dreihundert Menschen, die sich zum Protestantismus bekannt hatten, auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ; abhängig, weil sie ihren Gemahl Philipp  II . hingebungsvoll liebte – fast so stark wie ihren Herrgott, zu dem sie pausenlos betete. Genützt hatte ihr das alles nichts, sie war kinderlos geblieben und schon nach wenigen Jahren verschieden. Philipp war fortan in Spanien geblieben und Elisabeth auf den Thron gekommen.
    »Genau die meine ich, Sir.« Der alte Jonathan wurde jetzt mitteilsam. »Wenn sie und der König auf Schloss Hampton Court eine Audienz gaben, war das jedes Mal eine Prozedur, die sich eine Ewigkeit in die Länge zog.«
    »Aha.«
    »Es war so, dass die Besucher im Audienzraum grundsätzlich warten mussten, Sir. Je niedriger sie von Geburt waren, desto länger. Mindestens drei Lakaien hatten sie vorher in die Halle begleitet und sich danach wieder zurückgezogen. Blickten die Besucher sich nun um, entdeckten sie mehrere Sitzmöbel gegenüber den überdachten Thronsesseln. Vor diesen hatten sie zu stehen, manchmal eine Stunde oder länger. Erschienen Maria und Philipp dann endlich, begleitet vom Majordomus und der Leibwache, entblößten sie das Haupt und beugten das Knie. Dann pflegte das Königspaar Platz zu nehmen – das Zeichen für sie, sich wieder aufzurichten. Philipp sprach nun:
›Cubríos‹,
denn niemals wäre ihm eingefallen, den Befehl ›Bedeckt Euch‹ auf Englisch zu geben. Für diesen Gnadenerweis hatten die Besucher sich zu bedanken, indem sie abermals das Knie beugten, sich erhoben und ihre Kopfbedeckungen wieder aufsetzten. Dann wurden sie aufgefordert, selber Platz zu nehmen. Allerdings, um dem entsprechen zu dürfen, mussten sie vorher ein drittes Mal das Knie beugen.«
    »Du meine Güte!«, entfuhr es Vitus.
    »Anschließend trat der Majordomus vor, nahm sein Barett ab und verlas von einem Lesepult aus die Namen der Besucher. Nickte der König, mussten sie erneut aufstehen, die Kopfbedeckung abnehmen, einen Kniefall machen, sich aufrichten und die Kopfbedeckung wieder aufsetzen. Erst jetzt durfte ein Gespräch zustande kommen, ein Gespräch, das häufig recht einsilbig ausfiel, denn Maria und Philipp lagen die Wünsche ihrer Untertanen wenig am Herzen.«
    Jonathan unterbrach sich. »Vielleicht wundert Ihr Euch, Sir, dass ich die Dinge so offen ausspreche, aber ich weiß, dass unsere geliebte
Virgin Queen
dieses Ritual genauso verabscheute wie alle bei Hofe. Nun denn, um die Sache zum Abschluss zu bringen: War die Audienz beendet, setzte die ganze Prozedur aufs Neue ein – nur rückwärts.«
    »Vielen Dank, Jonathan.« Vitus lächelte schief. »Ich hoffe, dass ich nach all dem Auf und Nieder meine eigene Lektion nicht vergessen habe.«
    »Bestimmt nicht, Sir. Ihr werdet Eure Sache sicher gut machen. Äh, verzeiht, wenn ich das eben so gesagt habe. Seid Ihr bereit?«
    »Jawohl.«
    »Dann öffne ich Euch jetzt die Tür.«
     
    Elisabeth I., Königin von England, hatte lange darüber nachgedacht, welches Kleid sie für die Audienz wählen sollte. Dabei war der Anlass durchaus kein ungewöhnlicher. Tagtäglich empfing sie Menschen aus allen Schichten ihres Volkes, Adlige ebenso wie den einfachen Mann. Was also mochte der Grund dafür sein?
    Vielleicht, so sagte sie sich, lag es daran, dass dieser Vitus ein so weit gereister Mann war, ähnlich wie Francis Drake, John Hawkins oder Hippolyte Taggart, der alten Haudegen. Sämtlich Abenteurer, die nach Salz, See und Sturm rochen, ganze Kerle, die dem

Weitere Kostenlose Bücher