Die Mission des Zeichners
doch ich bin mir sicher, dass er das Buch nicht bei sich hat. Eine gewisse Vergütung wird sich nicht vermeiden lassen. Andererseits, wenn ich offen sein darf...«
»Bitte.«
»Unsere Freunde melden, dass es in London gärt. Stanhopes Entlastung hat die Volksmassen empört. Inzwischen dürfte unter Walpoles Mitwirkung auch Sunderland freigesprochen worden sein. Sie stecken doch alle unter einer Decke. Und das Grüne Buch wird jedem Einzelnen von ihnen das Genick brechen. Was immer wir dafür bezahlen müssen, wir können nur gewinnen.«
Während in Rom der Prätendent und sein Sekretär erwogen, was für eine Vielzahl von herrlichen Aussichten sich ihnen über Nacht eröffnet hatte, sah sich in London der Postminister, James Craggs der Ältere, am Abend vor seinem Prozess am Rande des unausweichlichen Ruins. Aus Kummer um seinen toten Sohn und im Wissen um die Wahrheit der gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen löste er die Angelegenheit durch die Einnahme einer tödlichen Dosis Laudanum. Der Letzte der Prozesse gegen die in den South-Sea-Skandal verwickelten höheren Minister war damit zu Ende, noch ehe er begonnen hatte. In Rom sollte just an diesem Abend ein Verfahren ganz anderer Art seinen Anfang nehmen.
25 Biegen oder Brechen
Wo war Estelle? Es war schon fast zehn Uhr, doch sie ließ sich immer noch nicht im Palazzetto Raguzzi blicken. Allmählich machte sich Spandrel Sorgen. Auf dem Rückweg vom Palazzo Muti hatte er bereits im Albergo Luna vorbeigeschaut. Seine angebliche Erkrankung, die ihn daran gehindert hätte, Estelle bei der Stadtbesichtigung zusammen mit Buckthorn und Silverwood zu begleiten, hatte er vorhin mit der Behauptung abtun wollen, es sei ihm am Nachmittag schon wieder viel besser gegangen, doch er hatte weder sie noch ihre Begleiter angetroffen. Nun, vielleicht waren sie irgendwo essen gegangen. Vielleicht war Rom bei Nacht nicht minder aufregend als bei Tage.
Nichts davon vermochte Spandrel zu beschwichtigen. Estelle musste doch genauso begierig hören wollen, was er am Hofe des Prätendenten ausgerichtet hatte, wie er darauf brannte, es ihr zu erzählen. Da hätte sie Buckthorn und Silverwood doch gewiss mit einer Ausrede abgewimmelt. Was war nur los?
Er hatte nun wirklich lange genug gewartet. Ein weiterer Gang zur Albergo Luna würde seine Unruhe wenigstens mindern helfen. Inzwischen müssten Buckthorn und Silverwood mit Estelle dorthin zurückgekehrt sein. Er warf sich seinen Mantel über, löschte die Lampe und ging zur Tür.
Cloisterman hatte stundenlang fröstelnd an der Piazza di Spagna in der Dunkelheit gestanden und darauf gewartet, dass Spandrel wieder aus dem Palazzetto kam oder Estelle de Vries dort eintraf. Bislang vergeblich. Das Klappergestell, das sich Spandrel ebenfalls an die Fersen geheftet hatte, war verschwunden. Jetzt war es tiefste Nacht. Cloisterman fror, ihm war langweilig, und er geriet immer mehr ins Zweifeln.
In diesem Augenblick schlug die Turmuhr der vom Mond matt beleuchteten Trinita dei Monti auf dem Hügel über dem Platz zehn Uhr. Da beschloss Cloisterman, sein Glück im Albergo Luna zu versuchen, wo Spandrel auf dem Weg durch die Via Condotti kurz vorbeigeschaut hatte. Vielleicht verbarg Estelle sich dort. Jedenfalls stand für ihn fest, dass sie ganz in der Nähe sein musste.
Er zog den Hut tief ins Gesicht, schlug den Mantelkragen hoch, bis er die Krempe berührte, und eilte über die Piazza davon.
Wenige Minuten später trat Spandrel aus dem Palazzetto Raguzzi, überquerte die Piazza und folgte, ohne etwas davon zu ahnen, Cloistermans Schritten.
Als er in die Via Condotti bog, stellte er überrascht fest, dass sich vor dem Albergo Luna ein kleiner Menschenauflauf gebildet hatte. Eine Kutsche war vor dem Gasthof vorgefahren, und er hörte Rufe und Pfiffe. Beim Näherkommen bemerkte Spandrel, dass es sich bei der Kutsche um keine von den vergoldeten eleganten Droschken handelte, die die Straßen Roms prägten, sondern um ein schwarz bemaltes, schmuckloses Gefährt mit vergitterten Fenstern.
Er blieb abrupt stehen. Aus dem Gasthof kamen zwei hoch gewachsene Gestalten in schwarzen Mänteln und zerrten einen kleineren, weniger kräftigen Burschen mit sich. Als sie ihn in die Kutsche verfrachteten, fiel ihm der Hut vom Kopf und gab mitsamt einer blonden Perücke ein fassungsloses, blasses Gesicht frei. Es war das Gesicht von Nicholas Cloisterman.
»Die Römer genießen doch wirklich jedes kleine Drama im Leben, finden Sie nicht auch?«,
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