Die Mission des Zeichners
wenn...«
»Jetzt!
»Estelle...«
»Sag's mir, William.« Ihr Blick war eisern, ihr Martyrium anscheinend vergessen. Es gab etwas anderes, das sie für weit wichtiger hielt. »Wo ist das Grüne Buch?«
»Verschwunden.«
»Wohin verschwunden?«
»Nach England. Cloisterman hat es.«
»Was?« Sie starrte ihn ungläubig an.
»Buckthorn und Silverwood haben ein Hauptbuch mit grünem Umschlag, das mit lauter Unsinn voll gekritzelt ist. Ob sie das vor, während oder nach dem Treffen mit dem Sekretär des Prätendenten merken, liegt bei den Göttern. Sobald sie es aber herausfinden, werden sie uns suchen, möglicherweise sogar mit einer Horde wütender Soldaten vom Highlander-Regiment im Schlepptau. Darum müssen wir schleunigst hier weg.«
»Ich gehe nirgendwohin, solange du mir nicht sagst, was geschehen ist.« Estelles Ton war so kalt und unerbittlich wie ihre Miene. Bereits im Moment ihrer Rettung war von Erleichterung nichts zu spüren. Vielmehr dachte sie an das, was sie verloren hatte.
»Buckthorn und Silverwood müssen dir doch gesagt haben, was sie vorhaben.«
»Natürlich haben sie das. Ich habe mich darauf verlassen, dass dir irgendwas einfällt, um sie zu überlisten.«
»Wie denn? Sie hatten ja die Quittung mit deiner Unterschrift darauf.«
»Ich musste unterschreiben. Sie drückten mir die Pistole an die Schläfe.«
»Ich habe mich um dein Leben gesorgt, Estelle. Buckthorn hat mir einen... Beweis gegeben, dass sie dich in ihrer Gewalt haben.«
»Das Strumpfband? Ist es das? Hattest du Angst, sie könnten mich vergewaltigen?«
»Ja.« Im selben Moment befiel Spandrel ein merkwürdiges Gefühl: Irgendwie kam er sich dumm vor. »Natürlich hatte ich Angst um dich.«
»Wie sie es beabsichtigten. Armer leichtgläubiger William. Du bist auf ihre Forderungen eingegangen?«
»Ja. Und ich hätte ihnen alles gegeben, was sie verlangten. Aber dann ist Cloisterman gekommen, und ich habe es mir anders überlegt.«
»Was ist passiert?«
»Er war spät in der Nacht bei mir und hat mir den Stand der Dinge klar gemacht. Offenbar sind die Behörden über alles, was im Palazzo Muti geschieht, auf dem Laufenden. Sie waren nicht bereit, den Verkauf des Buches zu dulden, denn es könnte sein, dass die Konsequenzen dem neuen Papst nicht recht sind. Folglich mussten wir daran gehindert werden, aber ohne dass der Prätendent merkt, dass sie uns abgefangen haben. Cloisterman soll das Buch der englischen Regierung überbringen. Wenn wir uns ihm in den Weg stellten oder immer noch versuchten, es zu verkaufen, würde man uns verhaften. Als ich ihm dann von Buckthorn und Silverwood erzählte, hat er vorgeschlagen, ich solle ihnen doch ein gefälschtes Hauptbuch übergeben. Daraufhin haben die Behörden die Bank angewiesen, das Schmuckkästchen mit einem Passepartout zu öffnen, und haben das echte Hauptbuch beschlagnahmt und Cloisterman ausgehändigt. Danach haben sie ihm freies Geleit bis zur Grenze zur Toskana gewährt.«
»Dieses Buch hätte uns reich gemacht.«
»Nicht hier, Estelle, nicht in Rom. Das Schicksal hat es eben nicht so gewollt.«
»Und was hat das Schicksal gewollt?«
»Ich habe mich einverstanden erklärt, weiter in den Süden zu fahren. Nach Neapel. Um zwei Uhr läuft ein Handelsschiff dorthin aus, und man erwartet zwei Passagiere. Ich habe unsere Habseligkeiten gepackt. Sie sind in der Kalesche verstaut.«
»Und was tun wir in Neapel?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie bedachte ihn mit einem traurigen, fast mitleidigen Blick. »Du bestimmt nicht.«
In der Kalesche fiel kein Wort, während sie über die Brücke zur Insel Tiberina, weiter zum Westufer des Tiber und vorbei an dem riesigen Spital San Michele zu ihrem Ziel gefahren wurden, dem Porto di Ripa Grande, dem Tor zum Flusshafen.
Bei ihrer Ankunft am Kai war der Handelskutter Gabbiano an der Mauer vertäut und wurde beladen. Sie mussten nur noch an Bord gehen. Doch als der Kutscher Anstalten machte, ihr Gepäck auf die Straße zu stellen, forderte ihn Estelle auf, es im Stauraum zu lassen. Der Bursche sah Spandrel hilflos an.
»Wir können nicht bleiben, Estelle«, beschwor Spandrel sie. »Das musst du verstehen.«
Statt einer Antwort stieß sie einen Seufzer aus und begann auf dem Kai hin und her zu wandern. Ihr Gesicht war dabei nach oben in den blauen Himmel gerichtet, und sie strich sich unablässig die Haare glatt, die, so verfilzt und schmutzig sie auch sein mochten, noch immer in der Sonne glänzten. Plötzlich hatte Spandrel wieder
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