Die Mission
Tatsache, dass die Gaslaternen brannten, beunruhigte sie. Für fünf Uhr am Nachmittag kam es ihr viel zu dunkel vor. Und noch während sie darüber nachdachte, spürte sie so etwas wie einen mentalen Schubs von PINC (sie wusste es, weil es sich anfühlte, als hätte sich ein brandneues Stück Information rücksichtslos in ihr Bewusstsein gedrängt), damit sie einen Blick auf die Taschenuhr warf, die an ihrem Aufschlag steckte. Sechs Uhr. Eine ganze Stunde später, als sie sich laut dem Professor hier hätte manifestieren sollen.
Dass ABBA etwas durcheinanderbringen konnte, fand Ella gleichzeitig besorgniserregend und beruhigend. Das eine, weil die Daten, über die PINC verfügte, gleichermaßen fehlerhaft sein konnten, und das andere, weil ABBA sich am Ende des Tages auch bloß als eine Maschine erwies.
Dass er sich in der Zeit geirrt hatte, bedeutete blöderweise, dass sie sofort zum Vorsingen musste. Es gab keine Zeit zum »Akklimatisieren« oder für einen Chill-out im Zimmer. Sie musste jetzt gleich ins kalte Wasser springen. Ella holte tief Luft – bemerkte, dass sie mit dem Ruß, den die Schornsteine ausstießen, geschwängert war und irgendwie faulig schmeckte – und marschierte auf die Hauptstraße zu, die das Ende der Gasse, in der sie sich befand, im rechten Winkel kreuzte.
Einen Augenblick blieb sie dort stehen und fasste Mut. Um die Wahrheit zu sagen, war sie sogar ein bisschen in Panik. Sie hatte keine Ahnung, wie sie Norma Williams finden, geschweige denn retten sollte. Sie war nur eine junge Frau von der falschen Straßenseite, die man um etwas gebeten hatte, das weit über ihre Möglichkeiten ging.
Hör auf … denk positiv.
Sie zupfte den Schleier zurecht, der ihr Gesicht verhüllte. Dass ABBA ihre Haube mit einem Schleier versehen hatte, war keine schlechte Idee gewesen. Es wäre nicht gerade klug gewesen, ihre Hautfarbe zur Schau zu tragen, schließlich war das hier Heydrich-Land.
Sie schluckte und versuchte, den Kloß in ihrem Hals loszuwerden.
Mein Gott, hatte sie Schiss.
Ella, Baby, worauf hast du dich bloß eingelassen?
Sie nahm sich zusammen und verließ die Gasse.
Doch nicht einmal PINC hatte sie auf das vorbereiten können, was sie erwartete, als sie um die Ecke bog. Es war ganz was anderes, nur davon zu reden, wie verstopft die Demi-Monde war und dass die Städte aus allen Nähten platzten, oder aber es am eigenen Leib zu erfahren. Auf der Straße – Mile End dem rußgeschwärzten Schild über ihrem Kopf zufolge – wimmelte es vor Menschen. Sie hätte sich nicht vorstellen können, dass man so viele auf so wenig Platz zusammenpferchen konnte. Oh, ja, dank PINC wusste sie, dass Mile End eine wichtige Durchgangsstraße war, die zu den Werften und den Dockanlagen an der Themse östlich der Rookeries führte, aber trotzdem …
Die Bürgersteige waren gerammelt voll mit drängelnden, schreienden, lärmenden Menschen. Männern mit Schnurrbärten in dunklen Anzügen und turmhohen Hüten. Arbeitern mit Stoffmützen und finsteren Gesichtern. Frauen mit Hauben und über den Gehsteig schleifenden Röcken. Kindern in Lumpen mit übergroßen Stiefeln, die durch die Menschenmassen flitzten. Es gab auch eine übertrieben große Anzahl von Soldaten, die mit tapferer, arroganter Miene umherstolzierten und an ihren roten Mänteln leicht erkennbar waren.
Was sie aber am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass all die Dupes, die in der Demi-Monde lebten, so erstaunlich lebensecht wirkten. Sie waren nicht von authentischen Menschen zu unterscheiden. Das war umso merkwürdiger, weil laut PINC die Bewohner der Demi-Monde nicht aus Fleisch und Blut waren, obwohl sie ein Skelett besaßen. Dieses war umgeben von einem Stoff, den sie Festen Astral-Äther nannten – FAÄ im Demi-Monde-Jargon –, einer hellen organischen Materie. Sie sorgte für die Muskulatur, mit deren Hilfe sie sich bewegten und dachten, die fünf Sinne, die sie brauchten, um mit der Welt ringsum zu interagieren, sowie die Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und wieder auszuscheiden.
Für Ella aber war das Traurigste daran, dass ähnlich wie in der Realen Welt die Farbe des FAÄ die Bewohner der Demi-Monde voneinander unterschied. Der UnFunDaMentalismus lehrte, dass die feinste und überlegene Form der menschlichen Spezies die angelslawische – oder arische – Rasse sei, weil sie die einzige war, deren äußerliche FAÄ -Farbe mit der inneren übereinstimmte. Und weil diese helle Färbung bei den anderen Rassen der Demi-Monde
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