Die Mission
Stiefelspitze den Tisch genau in dem Augenblick zum Wackeln bringen, in dem Vankas »spiritueller Führer« in ihn eindrang, und am allerwichtigsten, das Ektoplasma aus Kattun unter ihrem Reifrock hervorziehen und es in dem dunklen Saal, wo die Séance stattfand, hin und her schwenken.
Den Umgang mit Ektoplasma zu lernen war nicht leicht gewesen, aber es hatte ihr gezeigt, warum derartige Sitzungen im Dunkeln stattfanden. Das leuchtende Kattun aus dem hinteren Teil ihres Reifrockes zu ziehen, die dünne Metallstange unter dem Rock hervorzuholen, das Tuch daran zu knüpfen und damit herumzuwedeln, ohne dass irgendwer es mitbekam , war der reinste Albtraum. Im Übrigen erforderte es, dass sie beide Hände frei hatte, deshalb brachte Vanka ihr bei, das Paar, zwischen dem sie saß, so auzustricksen, dass es glaubte, ihre Hand zu halten, obwohl in Wahrheit sie beide Händchen hielten.
Doch auch das schaffte sie.
Während der Arbeit verstand Ella allmählich, warum Vanka ein so erfolgreicher Seher war. Er sah nicht nur blendend aus und war äußerst zuvorkommend, sondern er war auch ein geborener Charmeur und sehr guter Zuhörer. Kein Wunder, dass die Kunden, die zu seinen Séancen kamen – vor allem die Frauen –, überzeugt waren, es mit jemandem zu tun zu haben, der wahrhaftig Verbindung mit der Spirituellen Welt aufnehmen konnte.
Schließlich befand Vanka, dass sie so weit war. Zwei Tage später wartete sie im Hinterzimmer des Prancing Pig , während die Anwärter für die erste Séance eintrudelten. Soweit sie sehen konnte, waren alle gut betucht, aber das ging auch nicht anders, wenn sie die Guinee, die Burlesque für den Eintritt verlangte, berappen konnten. Da es noch früh war, hatten sich erst etwa fünfzehn Personen eingefunden. Sie gingen hin und her, beäugten verlegen lächelnd den Séance-Tisch und warteten auf den Beginn der Vorstellung.
Für ihren ersten Auftritt hatte Vanka Ella die Rolle einer trauernden Witwe zugeteilt, die erst vor kurzem ihren Mann verloren hatte. Folglich trug Ella ein schwarzes Kleid, das sie von Kopf bis Fuß verhüllte, dunkle Handschuhe und einen dichten Schleier – all das war wie geschaffen, um ihre Hautfarbe zu verbergen. Sie saß zwischen den Zuschauern und wartete mit ihnen auf den Meister. Aber auch das wenig schmeichelhafte schwarze Kleid konnte nicht verbergen, dass sie schlank und jung war. Infolgedessen war es kein Wunder, dass einer der männlichen Gäste auf Ella zutrat, den Hut zog und sich vorstellte. »Schönen guten Abend, Madam, wie ich sehe, werden wir diese Reise in die Spirituelle Welt gemeinsam unternehmen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Gestatten, Nathaniel Warrington.«
Sie schüttelten sich die Hand, und im selben Augenblick wusste Ella alles, was es über diesen Nathaniel Warrington zu wissen gab.
Wusste, dass er ein Lügner war.
Wusste, dass er in Wahrheit Samuel Morris hieß.
Wusste, dass Morris sich den falschen Namen zugelegt hatte, weil er als leitender Gutachter im Ministerium für Übersinnliche Angelegenheiten arbeitete und nicht zu der Seánce gekommen war, um die Spirituelle Welt zu bereisen, sondern um Mephisto – Vankas neuer Künstlername – als Scharlatan zu entlarven und ihm das Handwerk zu legen.
Wusste auch, dass Morris zusammen mit seinem Vorgesetzten, einem ebenso widerlichen Kerl namens Tomlinson gekommen war, der am anderen Ende des Raums herumlungerte und so tat, als kannte er seinen Kollegen nicht.
PINC brauchte Ella nicht darauf aufmerksam zu machen, dass sie Vanka warnen musste. Ein Blick in Morris’ Bewusstsein reichte, um ihr klarzumachen, welches Schicksal Scharlatane erwartete, und das war nicht gerade angenehm.
Sie musste sich zusammennehmen, um ein paar Minuten ruhig sitzen zu bleiben und über Belanglosigkeiten zu plaudern, ehe sie aufstand. »Entschuldigen Sie mich, Mr. Warrington, aber ich bin furchtbar aufgeregt … immerhin werde ich gleich mit meinem kürzlich verstorbenen Mann sprechen. Ach, du liebe Güte, jetzt wird mir auch noch übel.« Damit eilte sie davon, um Vanka zu suchen.
Die Nachricht verblüffte sogar den sonst so unerschütterlichen Vanka Maykow.
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Ich habe seine Hand berührt. Wenn ich das tue, kann ich in einem Menschen lesen wie in einem Buch.«
»Dann kann ich ja gleich einpacken. Ich habe von diesem Morris gehört. Angeblich entgeht ihm nichts. Er wird meine Tricks durchschauen, und dann bin ich dran.« Nervös stapfte er im Raum auf und ab.
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