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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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schmaler. Helene nahm es zur Kenntnis, ihre Kleider hingen weit an ihr herab, sie vergaß das Essen, und wo man es ihr vorsetzte, empfand sie keinen Appetit.
    Eines Tages erhielt sie einen Brief von Carls Mutter. Sie schrieb ihr, sie sei in tiefer Trauer, ein Leben ohne ihren Jüngs ten falle schwer. Ob sie bewusst nichts von den beiden anderen Söhnen schrieb, deren Tod sie, wie Carl erzählt hatte, so beharrlich leugnete? Carl liege auf dem Friedhof in Weißensee. Die Entwicklungen der jüngsten Zeit bewirkten in ihrem Leben einige Änderungen. Ihr Mann habe ein Angebot aus New York und sie denken, sie würden es diesmal annehmen. Keines der Kinder lebe mehr in Berlin, die Tochter siedle in diesen Tagen mit ihrem Gatten nach Palästina über. Zuletzt schrieb Frau Wertheimer, sie wisse, Helene könne dieser Wunsch befremden, aber es wäre ihr ein Anliegen von Herzen, sie trotz Carls Tod kennenzulernen. Carl habe seinen Eltern voller Zuneigung und Begeisterung von Helene erzählt, so verliebt, dass sie sicher waren, er habe ihnen bei dem im Februar verabredeten Besuch von einer anstehenden Verlobung erzählen wollen. Vielleicht irre sie sich auch und die beiden seien lediglich befreundet gewesen? Sie wolle Helene mit diesem Brief herzlich einladen und bitte Helene, sie auf dem Telefon anzurufen. Falls Helene das, aus welchen Gründen auch immer, nicht wolle, werde sie Verständnis haben und wünsche ihr voller Zuversicht für ihr junges Leben viel Glück.
    Helene wollte nicht. Von Wollen fand sie keine Spur in sich. Aber wie der Wille hatte sie auch die Furcht verlassen. Wenn es ein Herzenswunsch war, dann würde sie den Carls Mutter erfüllen. Von Fannys Telefonapparat aus rief sie am Wannsee an und verabredete einen Besuch Anfang Mai.
    Sie kaufte weißen Flieder und fuhr damit hinaus an den Wannsee. Das Tor wurde ihr von einem Gärtner geöffnet. Am Hauseingang nahm ein Hausmädchen sie in Empfang. Ob sie etwas ablegen möge? Helene trug wegen der Wärme keine Jacke, nur den hauchdünnen Schal aus Organza trug sie, und den wollte sie nicht dem Hausmädchen geben. Das Hausmädchen nahm ihr den Flieder ab und so stand Helene mit leeren Händen da, als sie in ihrem Rücken eine Stimme hörte: Willkommen.
    Guten Tag. Ich bin Helene. Helene trat der Dame entgegen.
    Carls Mutter streckte ihre Hand aus. Frau Professor Wertheimer, mein Gatte wird jeden Augenblick hier sein. Wie schön, dass Sie sich den Weg gemacht haben. Ein zarter Hauch von Blütenduft umgab sie.
    Keine Ursache, sagte Helene.
    Wie bitte?
    Helene überlegte, ob sie sich falsch ausgedrückt hatte. Ich bin gern gekommen. Die Lider von Frau Professor flatterten leicht, einen Augenblick erinnerte ihr Augenaufschlag an Carl. Helene sah sich um.
    Mögen Sie Tee? Carls Mutter führte Helene durch die hohe Eingangshalle. An den Wänden hingen Gemälde. Im Vorübergehen erkannte Helene das Aquarell von Rodin, von dem Carl ihr erzählt hatte. Sie wollte sich umdrehen und stehen bleiben, aber sie fürchtete, seine Mutter hielte das nicht für angemessen. Das dunkle Bild konnte aus Spanien kommen. Carls Mutter schritt in ihrem langen vornehmen Gewand, das an die Abendgarderobe einer orientalischen Prinzessin erinnerte, durch ein anschließendes Zimmer mit hohen Fenstern, die den Blick in einen Garten freigaben. Rhododendron blühte auf, in Büscheln leuchtete das zarte Violett und ein Purpur aus dem dunklen Grün der glatten Blätter. Die Wiese stand hier oben hoch, sie war übersät von Blüten und Dolden, über denen Insekten taumelten. Helene wusste von Carl, dass der Garten bis an den See hinab reichte und sie über einen Bootssteg verfügten, an dem das Segelboot und ein Ruderboot lagen, mit denen noch vor mehr als fünfzehn Jahren sein im Krieg verschollener Bruder gesegelt und gerudert sein sollte.
    Carls Mutter ging nun in den angrenzenden Saal. Meterhohe chinesische Vasen und Möbel im Biedermeier-Stil standen dort. Die breite Flügeltür stand offen, die auf die Terrasse führte. Der See lag unter ihnen. Mit der lauen Feuchtigkeit des Frühlings stieg der Geruch von frischgeschnittenem Gras zu ihnen herauf, vermutlich schnitt der Gärtner, auch wenn man ihn nicht sah. Es war eher ein etwas wilder Park als ein Garten; wohin sie auch blickte, einen Zaun konnte Helene nicht erkennen. Einzig die hölzernen Bögen eines Rosengartens blinkten weiß aus dem etwas abwärts liegenden Rondell.
    Setzen wir uns? Carls Mutter zog einen der Stühle zurück und rückte

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