Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Tiergarten knarrten und verströmten ihren modrigen Geruch. Im Dickicht raschelte es, die Ratten flohen vor ihnen über den Weg. Unter der Linde nahe der Schleuse blieben sie stehen, sie hörten die Affen aus ihrem Gehege in die Nacht brüllen.
Carl erschien es seltsam, als Erster das Wort an sie zu richten. Was er sagen wollte, hätte ohnehin in keinem Gespräch Platz gefunden. Er bückte sich und hob ein Lindenblatt auf. Unverwundbar, gibt es das? Er hielt sich das Lindenblatt vor die Brust, etwa dorthin, wo die meisten Menschen ihr Herz vermuten. Helene legte ihre Hand auf seine und führte sie vorsichtig zur Mitte hin. Sie sagte nichts. Carl ließ das Blatt fallen, er nahm ihre beiden Hände in seine und glaubte, sie müsste sein Herz in seinen Handflächen schlagen spüren. Ich könnte dich fragen, ob du meine Frau werden möchtest, hörte er sich sagen. Du bist jetzt einundzwanzig. Deine Mutter ist Jüdin, meine Eltern werden nichts gegen meine Wahl vorbringen.
Du könntest mich fragen. Ihre Augen verrieten nicht, was sie dachte. Forschend sah er sie an.
Dein Schuh ist offen, sagte sie, ohne zu seinen Füßen zu schauen. Offenbar war ihr das schon vor längerer Zeit aufgefallen. Carl bückte sich, er band seinen Schuh zu.
Du kennst meine Mutter nicht, meinen Vater nicht, niemanden.
Ich kenne Martha. Was kümmern mich deine Eltern, meine kümmern dich ebensowenig. Das hier ist etwas zwischen uns beiden, nur zwischen uns. Versprichst du mir, meine Frau zu werden?
Der Schrei eines Affen gellte zu ihnen herüber. Helene musste lachen, aber Carl sah sie ernst an, er wartete auf Antwort.
Sie sagte Ja, sie sagte es schnell und leise und im ersten Augenblick fürchtete sie, er könnte es nicht gehört haben, im nächsten hoffte sie es, weil es so schwach geklungen hatte und sie es gerne frei und voll gesagt hätte. Ein zweites Ja hätte das erste noch unentschlossener und feiger erscheinen lassen.
Carl zog Helene zu sich und küsste sie.
Rieche ich nicht vergoren?
Carl stimmte zu. Ein wenig, ja. Vielleicht habe ich zu lange gewartet?
Er nahm ihre Hand. Das Eis war gebrochen. Vielleicht schenkst du mir Kinder, sagte er und stellte es sich schön vor, wenn sie zwei, drei Kinderlein bekämen.
Helene war wieder ins Schweigen verfallen, sie gingen nebeneinander.
Könnte es sein, dass dir übel war, weil du ein Kind erwartest? Carl freute sich über seinen Einfall.
Helene blieb auf der Stelle stehen. Nein.
Was macht dich so sicher?
Ich weiß es, ganz einfach. Sie lachte. Glaub mir, eine Krankenschwester wüsste auch gut, wie sie dem abhelfen könnte.
Während Helene noch fröhlich war, war Carl schon erschrocken.
So etwas sollst du nicht sagen. Das möchte ich nicht. Du willst doch auch Kinder?
Sicher, aber nicht jetzt. Ich möchte die Schule beenden, ich ha be noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass ich studieren kann. Ich arbeite viel und bekomme kaum das Geld für eine Miete.
Wir. Du kannst dich auf mich verlassen. Schenkst du mir Kinder, schenk ich dir ein Studium. Carl meinte es ernst.
Willst du handeln?
Meine Eltern werden uns unterstützen.
Ja, vielleicht. Deine Eltern, die ich noch gar nicht kenne. Carl, ich muss dir etwas sagen. Ich schenke einem Mann keine Kinder. Kinder lassen sich nicht schenken. Die Christen schenken ihrem Herrn etwas, sie schenken Liebe. Vorhin, im Theater, da war vom Schenken die Rede. Ich halte das für Unsinn. Ich will mir auch kein Studium von dir schenken lassen.
Warum nicht? Mein Vater hat mir Geld in Aussicht gestellt, wenn ich das Examen mit Auszeichnung bestehe.
Dann ist es für mich doch längst zu spät. Helene spürte ihre Ungeduld. Wenn ich die Schule abgeschlossen habe, werde ich selbst für mein Studium arbeiten.
Vertraust du mir nicht?
Carl, bitte, mach es nicht zu einer Frage von Vertrauen.
Wenn unsere Kinder dein Haar haben, dein goldenes Haar, dann bin ich froh. Carl nahm ihr Gesicht in seine Hände.
Helene lächelte. Carl küsste sie wieder, ihm schien der saure Geschmack nichts auszumachen, er drückte sie gegen den Lindenstamm und kostete die Haut ihrer Wangen, er leckte mit der Zungenspitze um ihren Mund herum.
Spaziergänger kamen vorbei und Carl behauptete, man könne sie im schummrigen Licht der Laterne und im Schatten der Linde nicht sehen. Ein Blatt fiel vom Baum, es landete auf seiner Schulter.
Vielleicht werden unsere Kinder nur meine kleine Nase haben und deine mageren Knochen. Helene pustete, sie wollte das Blatt von Carls Schulter
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