Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
dämlich? Muttel wusste genau, was los war, denn sie hat es selbst angedeutet. Erinnerst du dich, als sie bei uns wohnte und das Malheur mit dem Geld passierte, das ich zu viel für Fleisch bezahlt hatte? Wir wollten gemeinsam ins Schwimmbad, als Muttel und ich uns stritten und sie anfing, über Doppelmoral zu reden. Ja, sie wusste es ganz genau.«
» Das ist kindisch, verzeih mir, aber das ist es. Warum habt ihr nie darüber gesprochen? Vielleicht hätte es eine ganz einfache Erklärung gegeben?«
» Welche denn? Dass sie es genoss, von einem Russen vergewaltigt zu werden? Dass sie Lust dabei empfand und einen Höhepunkt kriegte?«
» Die Umstände waren schrecklich, Lottchen. Alles war unnormal. Menschen wurden verrückt, wie man weiß, die Angst und die Panik machte aus Flüchtenden verwirrte Tiere. Warum nimmst du deiner Mutter sogar jetzt noch, da sie tot ist, übel, dass sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatte? Sie wird sich um euch Kinder gefürchtet haben. Vielleicht hat sie dem Soldaten auch nur etwas vorgespielt, um anschließend nicht getötet zu werden? Sagt man nicht, die Russen hätten nach der Vergewaltigung so manche Frau erschossen? Siehst du? Dieser hat es nicht getan, denn er war glücklich, als er von deiner Mutter wegging. So, wie ich Muttel einschätze, wollte sie euch lediglich schützen.«
Thomas’ Herz macht einen Hüpfer. Er traut seinen Ohren nicht.
»Ja, ja ...«, keift Mama und Schluchzer stehlen sich in ihre Worte. »Du hast sie immer besser verstanden, als ich. Besser, als die ganze Familie. Das musstest du uns allen ja auch noch mit deiner Trauerrede beweisen. Er, der große Frank Wille, verabschiedet seine liebste Schwiegermutter. Vielleicht hättest du sie heiraten sollen. Ihr wäret ein herrliches Paar gewesen.«
» Aber Lottchen ...«
» Aber Lottchen!«, äfft sie ihn nach. »Du hattest immer Verständnis für sie, aber du hast keine Ahnung, wie es für ein Kind ist, so etwas mitzuerleben. Alle Frauen wehren sich, manche töten sich vorher und meine eigene Mutter wälzt sich in Lust. Ich bitte dich, Frank. Dafür kann man kein Verständnis haben.«
Eine kleine Pause.
»Hätte sie es nicht getan, wäre sie vielleicht schon damals gestorben, und ihre Kinder mit ihr. Und falls Muttels Seele diesen Ausweg brauchte, um für euch und sich Kraft zu gewinnen, hast du kein Recht, darüber zu richten, Lotte. Ich wünschte, ihr hättet euch ausgesprochen. Nun ist es zu spät. Der Herzanfall kam schnell und endgültig. Ihr konntet nicht mehr miteinander reden. Und ich vermute, genau das macht dir zu schaffen. Du bist eine akkurate Frau, warst es immer. Du bist jemand, der alles aufgeräumt haben muss und du siehst nun, dass du diese eine Sache nicht mehr wegräumen kannst. Sie wird für alle Zeiten bei dir rumliegen und das, meine Liebste, das ärgert dich. Und es ärgert mich. Du hättest früher mit mir darüber sprechen sollen.«
» Oh nein, Frank. Du hättest öfters fragen sollen.«
» Ich habe das Thema respektiert.«
» Du wolltest nicht damit belastet sein. Aus reiner Bequemlichkeit, Frank!«
» Aber ...«
Thomas hört seinen Herzschlag und dann hört er seine Mutter weinen. Vermutlich nimmt Vater sie jetzt in den Arm und tröstet sie. Thomas kommt sich vor wie ein Dieb und schleicht durch den Flur zur Haustür. Er hat etwas gehört, das nicht für seine Ohren bestimmt gewesen ist. Ein Geheimnis, welches Mama ein Leben lang mit Oma Käthe geteilt hat. Eine interessante Geschichte mit einem gewachsenen Konflikt. Ein Seelenzerwürfnis, das Menschen beeinflusst. Ihr Handeln, Denken, ihr ganzes Leben. Vielleicht wäre Oma glücklicher gestorben, hätte sie als Letztes ein freundliches Lächeln in den Augen ihrer Tochter gesehen? Vielleicht wäre Mama nicht so hart geworden, hätte sie dieses Erlebnis früher verarbeitet? Alles hätte anders kommen können.
Nur ein paar Worte.
Und etwas Verständnis.
Es gibt eine Vielzahl Alternativen.
Unzählige Möglichkeiten.
Daraus ergeben sich Geschichten.
Thomas huscht in die Garage, schnappt sich zwei Bierflaschen und schleicht in sein Zimmer zurück.
Verästelungen. Eventualitäten. Aussichten.
Und alles hängt ab von ein paar gesprochenen Sätzen. Vom Zerriss eines Bildes, das man sich gemacht hat und welches einen innerlich verbrennt. Mama hatte nie die richtigen Fragen gestellt. Aber nur durch Fragen entsteht, was bleibt. Mama hatte oft gesagt, in diesem Haus hätte sie ihre Heimat gefunden. Das stimmt nicht, erkennt
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