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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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sich neben sie, beugte sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Dabei flüsterte er etwas. Seine Hände fuhren durch ihr Haar. Dann waren er und seine mächtigen Stiefel verschwunden und Muttel krabbelte hoch und saß dort, die Beine an die Brust gezogen und starrte in die Scheune. Ihr Buckel wirkte im Profil wie die Verwachsung einer Märchenhexe.
    Erst jetzt nahm Lotte wahr, was geschah. Immer wieder Schüsse und Schreie. Frauen, die sich wehrten, die nicht vergewaltigt werden wollten, die um ihr Leben und ihre Würde kämpften, und ihre Männer, die mit Tränen auf dem Gesicht, Rotze unter der Nase und Schaum in den Mundwinkeln mit anschauen mussten, was man ihren Frauen oder Töchtern antat. Viele schwiegen aus Angst vor dem tödlichen Schuss und nahmen dieses Grauen mit - wenn sie Glück hatten. Mit auf den Weg nach Westfalen.
    Nach einer langen Weile, die Lotte vorkam wie eine höllische Ewigkeit, wurde es ruhig und die Scheune wurde nicht angesteckt. Die Russen zogen weiter. Sie hatten sich ausgetobt und gingen auf die Suche nach neuen Vergnügungen.
    Und noch immer saß Muttel da, starrte vor sich hin und Tränen tropften von ihrer Nasenspitze. Dann, so unversehens, dass Lotte einen Schrei ausstieß, sprang sie auf und räumte das Stroh weg.
    Ihr Blick traf den ihrer Tochter. Und Lotte begriff im selben Moment, dass sie niemals über das soeben Erlebte reden würden, denn es hatte das Band zwischen ihnen zerrissen.
    »Pack alles zusammen und kümmere dich um deine Brüder«, sagte ihre Mutter mit schneidender Stimme. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Freiheit wartet.

8
     
    Es ist still im Haus und Thomas zupft auf seiner Gitarre einige Arpeggios, dann langweilt ihn das Instrument. Er blickt sich in seinem Zimmer um und fragt sich, wie lange er hier noch wohnen will. Er hat das Alter, in dem man bei den Eltern wohnt, längst überschritten. Es wird Zeit, sich auf eigene Füße zu stellen. Man hat ihm seine Arbeitsstelle freigehalten, zumindest vorübergehend, sodass er Zeit hat, sich etwas Neues zu suchen. Geld ist nicht das Problem, sondern seine Bequemlichkeit.
    Mamas Essen ist hervorragend und mit Vater kommt er bestens aus. Mama wäscht seine Klamotten und bügelt alles, was will er mehr? Hin und wieder leiht er sich das Auto seiner Eltern, einen gebrauchten Ford Granada , also kann er sich die Ausgabe für ein eigenes Auto sparen.
    Deprimiert wirft er sich aufs Bett und starrt an die Decke. Er hat alles, was er benötigt, doch ihm ist klar, dass er schmarotzt. Er schielt zur Schreibmaschine, die unter einer grauen Schutzhülle im Wandregal steht.
    Vielleicht ... vielleicht ...
    Ach nein! Dann lieber zu seinen Freunden gehen und einen draufmachen. Ist nicht so anstrengend. Gemeinsam On Stage von Rainbow hören oder die neue Liveplatte von Genesis . Queen sind mit We Are The Champions angesagt. Musik, die Thomas gefällt. Auch diese Punker, die Sex Pistols , findet er gut. Im Fernsehen läuft schließlich nichts Vernünftiges, denn es gibt nur drei Programme. Obwohl ... Am laufenden Band macht Thomas Spaß, und die neuen Serien Der Alte , Roots oder Bio’s Bahnhof haben es in sich. Dieser Biolek stellte kürzlich eine völlig unbekannte Sängerin vor, die ihm direkt ins Herz sang. Irgendwas mit Käthe, so wie Oma hieß. Kate Bush? Ja, so heißt sie. Von ihr wird man noch hören.
    Er hat Durst.
    Auf ein Bier oder zwei.
    Hat er neuerdings meistens, seitdem er vom Bund zurück ist. Kein Problem, das findet er im Keller oder in der Garage. Vater hat immer einen Kasten auf Vorrat da. Das war immer schon so und wird vermutlich so bleiben, bis der alte Herr stirbt.
    Thomas verlässt sein Zimmer und geht die Treppe runter. Unten, im Wohnzimmer, hört er seine Eltern. Sie reden aufgeregt, dann wieder leise, dann lauter. Er hält inne und spitzt die Ohren. Er friert regelrecht an der untersten Treppenstufe fest, als Mama ruft: »Es war eine Vergewaltigung, begreifst du das nicht?«
    Vater flüstert, Gläser klirren und Thomas blickt auf die Uhr. Es ist Freitagabend. Sie haben das Wochenende vor sich und nicht selten nutzen seine Eltern das aus, wie man am nächsten Morgen riecht, wenn Vater nach einer Mischung aus Zahnpasta und Bier gümmelt und Mama wie ein Geist durch die Küche tapst. Sie sind keine Kinder von Traurigkeit und vermutlich deshalb so tolerant ihm gegenüber.
    Thomas lauscht.
    »Du warst noch ein Kind, Lottchen. Wer weiß, ob du dich richtig erinnerst?«
    » Glaubst du, ich sei

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