Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
Thomas. Heimat ist nur dort, wo man verstanden wird, und sich selbst versteht. Dieser Schritt ist ihr nun verwehrt.
Zuerst ist die Idee.
Dann der Wille.
Und schließlich die Schreibmaschine.
Eine Stunde später sind die Bierflaschen geleert und viele Seiten mit Buchstaben gefüllt. Thomas schreibt.
9
Arndt Emmerlings Fingerspitzen liegen auf dem sauberen getippten Manuskript. Es wurde ihm mit einem Begleitbrief vorgelegt und er wollte es soeben, wie es üblicherweise mit unverlangt eingesandten Manuskripten geschah, mit einem Ablehnungsschreiben versehen, als er sich daran erinnerte, warum er die Stelle eines Lektors in einem namhaften Verlag angenommen hatte.
Er wollte Autoren entdecken, sie fördern, und ihnen helfen, zu veröffentlichen. Ihm war klar, dass ein Erfolg auch auf ihn strahlte, und hätte es genossen, sich im gemeinsamen Ruhm zu sonnen.
Doch dazu ist es bis heute nicht gekommen. Nicht selten hadert er mit sich und seinem Beruf und tröstet sich damit, die Hausautoren zu betreuen, die manchmal nicht pflegeleicht, aber mit einiger Erfahrung gut zu leiten sind. Sie mögen seine Art, vielleicht belächeln sie ihn auch, doch er kommt mit deinen Vorschlägen durch und hat wenig Streits.
Arndt wendet die ober en fünf Blätter. Zumeist braucht er eine einzige Seite, um zu erkennen, ob der Autor schreiben kann. Fast alle Manuskripte sind dilettantisch verfasst, ohne handwerkliches Geschick und vor allen Dingen überbordend von Adjektiven. Hinzu kommen permanente Wechsel der Perspektiven, meist innerhalb eines einzigen Kapitels - wobei das auch Stilmittel sein kann - Zeitsprünge, gähnend langweilige Erinnerungen oder Träume, außerdem wechselnde Sätze in Präsens, Futur und Perfekt. Ein solches Manuskript legt er weg und sagt dem Möchtegern ab. Am liebsten würde er noch ein Handbuch beilegen, in dem erklärt wird, wie man schreibt.
Denn Schreiben ist Handwerk!
Schreiben ist Arbeit!
Ist Schweiß! Mühsal! Einsamkeit!
Das möchte Arndt am liebsten den Autoren deutlich machen. Ein Handwerk, wie zimmern, gärtnern oder kochen. Schreiben gehorcht Gesetzmäßigkeiten, die sich kaum jemand einverleibt, der meint, auf der Tastatur die richtigen Buchstaben zu finden und sich für eine Reinkarnation von Shakespeare hält. Wer gut schreiben will, muss dieses Handwerk lernen, üben und üben und irgendwann vielleicht, aber auch nur vielleicht, legt er einen lesbaren Text vor, der sich vielleicht, vielleicht sogar verkauft.
Die Chance ist ungefähr so groß wie die eines Schneeballes in der Hölle, weiß Arndt. Aber es gibt sie, also sollte man sie nutzen.
Er hält nichts vom Mythos des Schriftstellers, von einem permanent besoffenen Jack London, der, was kaum jemand weiß, in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens keinen Tropfen mehr angerührte, während er stocknüchtern seine größten Werke schrieb, und erst später wieder zu König Alkohol zurückkehrte und sich im Suff umbrachte. Oder vom Mythos des Genies, wie Hemingway eines gewesen sein mochte, der sich den Kopf mit einer Gewehrkugel wegballerte, vielleicht aus trockener Depression. Oder von den Großtaten des Dostojewski, der mit Kindern schlief, sein Geld verspielte, soff und in letzter Sekunde einem Standgericht entging. Sie alle schrieben große Literatur, hatten es im Blut, in den Genen, waren besondere Menschen, irgendwie brennend, wie eine Kerze von zwei Seiten. Und maßlos überbewertet. Keines ihrer Bücher, wenn sie von einem Nachwuchsautor kämen, würde sich heutzutage verkaufen. Zu streng sind die Richtlinien. Zu sehr hat sich das geschriebene Wort verändert.
Es ist filmisch geworden.
Es braucht Bilder, die an das Kino erinnern. Schöne Worte sind nicht mehr gefragt. Die Handlung ist alles.
Darin ist Arndt Fachmann und wird in seinem Verlag dafür geschätzt. Seine Sensibilität, sein Fingerchen für Texte und sein Einfühlungsvermögen für zumeist darbende, aber dennoch prahlerische Autoren macht ihn unersetzlich.
Für Arndt Emmerling ist das geschriebene Wort wie ein Song. Misstöne gehören nicht dahin.
Er blickt zur Wand, wo die Titelbilder der aktuellen Bestseller hängen. Sie alle kommen aus anderen Verlagen, sind Wegweiser und Motivation.
Simmel, mit Hurra, wir leben noch.
Grass, mit dem Butt.
Walser, mit dem fliehenden Pferd.
Und ein Roman, den er gerne vertreten hätte: Christiane F. und die Kinder vom Bahnhof Zoo.
Bestseller, die eine, Verlag viel Geld bringen und einen Lektor berühmt machen –
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