Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
Kinder aneinandergebunden und folgten Muttel, die den Kinderwagen schob. Rudi hatte man in eine Decke gewickelt, er lag im Wagen und schlief. Sie hatten kaum noch Habseligkeiten, denn vieles mussten sie unterwegs zurücklassen, um schneller voranzukommen.
Trostlos waren die Leichen der Mädchen, die sich aus Angst vor der Roten Armee erhängt hatten. Ihre gefrorenen Körper baumelten an den knorrigen Ästen entlaubter Bäume.
Der Treck war kleiner geworden, nachdem man den letzten Angriff der Russen erlebt hatte. Viele Männer hatte man gefangengenommen und verschleppt. Es war keine große Sache gewesen, sondern das Übliche. Vergewaltigungen, Erschießungen und Schläge. Schlesien lag hinter ihnen und die Kälte im Frühjahr 1944 war grausam. Wie eine Karawane zogen die Flüchtlinge zu Fuß oder auf kleinen Wägelchen und Kinderwagen ihre letzte Habe, wie eine schwarze Schlange im leuchtend weißen Schnee. Es gab auch zwei Pferdewagen, doch jedermann ahnte, dass das Fleisch der Gäule bald anderen Zwecken dienen würde.
Lotte wusste nicht, wohin es ging, lediglich das Wort Westfalen hatte sie gehört und davon hatte sie keinen Begriff. Ihre jüngeren Brüder waren mager und hohlwangig, Otto blies hin und wieder auf einer verbeulten Mundharmonika und Muttel stemmte sich gegen die Unbill der Naturgewalten, als gelte es, eine solide Eismauer mit den Schultern zu durchbrechen.
Sie kamen zu einem verlassenen Bauernhof, was bedeutete, man hatte ein festes Dach über dem Kopf. Die Freude währte nicht lange, denn es gab kein Dach mehr und was vom Hof übriggeblieben war, wirkte düster wie die mahnenden Finger des Todes. Tote Tiere lagen in ihrem Blut und waren so hartgefroren, dass man sie nicht auseinanderschneiden konnte. Es pfiff ein scharfer Wind und es stank nach Rauch, Ruß und Elend.
Der Treck bot einen herzzerreißenden Anblick. Kaum jemand glaubte noch, in Westfalen anzukommen. Sie liefen, weil sie es eben taten, wie seelenlose Körper, die ihrem Instinkt folgten. Sie hatten Grausamkeiten erlebt, die jeder Beschreibung spotteten, und manch einer hatte sich vom Treck gelöst und war schreiend und jammernd in die Wälder gelaufen. Diese Menschen hatten schlicht und einfach den Lebensmut verloren.
Sie fanden abseits eine Scheune, die noch halbwegs intakt war. Hier gab es ausreichend Stroh und Heu, um den Flüchtenden ein Lager zu bieten, was allemal besser war, als im Schnee, in einer Kuhle oder unter Büschen zu schlafen.
Muttel schaffte, beherzt wie immer, Platz für ihre Kinder und so lagen sie eng aneinander gedrückt, um sich gegenseitig zu wärmen und fanden einen leichten, von Alpträumen geschüttelten Schlaf.
Es stank erbärmlich, als sich viele Kinder einnässten oder einkoteten, doch daran hatte man sich gewöhnt. Erwachsene erbrachen sich, denn das heiße Wasser, das man nur mit Mühe eine Suppe nennen konnte, sättigte nicht, sondern spülte Magen und Darm aus.
Einige Männer förderten eine einsame Flasche Wodka hervor und leerten sie in Windeseile, was zu weiterer Kotzerei führte und zu viel zu lauten Worten.
Endlich wurde es still.
Lotte erwachte vom Schnarchen der Schlafenden, zumindest dachte sie das. Sie lauschte in die Dunkelheit und fragte sich, ob so der Rest ihres Lebens aussehen würde? Die Zukunft hatte ihr Gesicht verloren, alles, was sie noch empfand, war eine hohle Kälte und ein kindliches Unverständnis für das, was geschah.
Dann ertönte ein Ruf, der ihre Nackenhaare aufstellte.
» Die Russen kommen!«
Jemand rief es und sie begriff, dass die Männer Wachen eingeteilt haben mussten, von denen eine reagierte. Lotte hatte diesen Ruf so oft gehört, dass sie glaubte, ihn in ihrem ganzen weiteren Leben nie wieder zu vergessen. »Die Russen kommen!« Diese Warnung war existenziell und schnitt in ihre junge Seele wie ein stumpfes Messer. Zwar war sie noch sehr jung, doch wenn das Unglück es wollte, würde irgendeiner dieser kantköpfigen Männer sich auch über sie hermachen. Sie hasste die Gesichter der Russen. Sie waren flach, mit zumeist kleinen, manchmal asiatisch schmalen Augen, runden Nasen, dünnen Lippen und kurzgeschorenen Haaren. Viele hatten Stiernacken und die Anmutung von grausamen Kreaturen. Selbst ein lächelnder Russe wirkte gewalttätig. Sie schienen es im Blut zu haben, Blut, das mit Wodka verdünnt war, sie enthemmte und wild machte wie Raubtiere.
Im Nu waren die Flüchtlinge auf. Man raffte alles zusammen, was man noch besaß, doch es war zu
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