Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
müssen und dann werde ich Spieß. Wenn es so weit ist, Gnade Ihnen Gott.«
Thomas erinnert sich, dieses Gefühl der Unwirklichkeit damals genauso empfunden zu haben, als Ditschigs Schweißtropfen auf den Hemdkragen fiel. Ein bizarres, absolut groteskes Gefühl. So, als betrachte man ein Geschehen von außen, die Szene eines Bühnenstücks, vom sicheren Sitz aus. Im wirklichen Leben konnte, durfte so etwas nicht sein. Doch was, zum Teufel, war wirklicher und realer, als das Soldatenleben?
So sehr Thomas sich dagegen wehrt ... Ditschig und das, was dieser ausspeit, ist Realität.
Genauso real, wie die Faust, mit der Thomas den kleinen Mann schlägt.
Der erste Schlag trifft Ditschig auf die Lippen und Thomas spürt, wie sich die Haut von seinen Knöcheln schält, als er die Zähne trifft. Der zweite Schlag trifft Ditschig am Kinn.
Das ist es.
Und es reicht. Der Feldwebel glotzt Thomas an, seine Brille rutscht auf die Nasenspitze, Blut spritzt von den zerschlagenen Lippen, das feiste Kinn bebt, und schließlich fällt der Mann um wie eine leere Bierflasche, kullert genauso zur Seite und liegt in einer Pfütze. Es gibt keine filmreife Schlägerei, kein Ächzen und Stöhnen, stattdessen geschieht alles lautlos und unspektakulär.
Thomas geht weg, während Ditschig sich aufrappelt. Er dreht sich noch einmal um und der Soldat steht auf wackelnden Beinen im Herbstwind. Im selben Moment erwacht Thomas und begreift, dass er sich eine Schwierigkeiten eingebrockt hat. Man kann, man darf nicht einfach so auf jemanden einschlagen. Nicht in Deutschland. Er überlegt, umzukehren, sich zu entschuldigen, irgendetwas zu sagen, das die Sache bagatellisiert, doch das gelingt ihm nicht. Er senkt den Kopf und geht davon.
Während seine Fingerknöchel zu brennen beginnen, denkt er an Trecker und an das Windvogelband.
13
Vierhundert Kilometer nördlich sitzt ein Mann auf einem Sofa und starrt an die Zimmerdecke.
Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es vorwärts, denkt er. Doch wie soll man es leben, wenn es seinen Wert verliert? Wenn Einstein Recht hatte, als er sagte, nur ein für andere gelebtes Leben sei lebenswert, hatte diese Erdenzeit für Arndt Emmerling seinen Sinn verloren.
Er hatte seinen erhängten Freund gefunden. Noch nie hatte Arndt so intensiv geschrien. Noch nie so etwas Grausiges gesehen. Er hatte keinen Laut von sich gegeben, und eben das hatte es so schlimm gemacht, denn der Schrei richtete sich nach innen und verbrannte seine Seele wie ein Feuerblitz, der über trockenes Stroh huscht.
Er hatte mit bebenden Fingern die Polizei gerufen.
Man hatte Mark abgeschnitten. Bedacht hatte man aufgepasst, dass der Körper sanft zu Boden glitt. Man versuchte, mit Arndt zu sprechen, gab ihm eine Beruhigungsspritze und schaffte schließlich die Leiche weg. Man hatte vergessen, den Rest der Schnur zu beseitigen, die noch immer von der Holzstrebe baumelt.
Wie lange war das her?
Einen Tag? Zwei Tage?
Liebe Güte, wie sie sich damals über die Holzbalken gefreut hatten. Wie Kinder lachten sie, als sie die stylische Wohnung in Berlin-Mitte fanden. Sie war gemütlich und bezahlbar.
Erstaunlicherweise hatte man Mark zur Bundeswehr gezogen. Der Amtsarzt habe ihm seine Homosexualität nicht geglaubt, sagte Mark. An den Brusthaaren machte der Amtsarzt sich fest. So viele Haare, so starke Muskeln, ein ganzer Kerl, wie man ihn bei der Bundeswehr brauchte. So einer sei nicht vom anderen Ufer. Verarschen könne er sich alleine.
Denn verarschen täten ihn viele. Indem sie pures Kaffeepulver aßen, um den Kreislauf auf fiebrige Werte zu bringen, oder Medikamente nahmen, die den Blutdruck erhöhten, vielleicht auch humpelten und Rückenschmerzen vortäuschten. Man tat vieles, um nicht gezogen zu werden, denn nicht jeder trat die Flucht nach Berlin an. Aber diese feigen Kerle machten einem korrekten Amtsarzt nichts vor.
Finger an die Eier, husten, schnell unter die Vorhaut geguckt, alles klar!
Dienstfähig!
Markus sagte, wenn schon, denn schon, und verpflichtete sich für vier Jahre. Das bringt Geld und eine kleine Abfindung, außerdem einen Dienstgrad. Zwar zogen sie nach Berlin und Mark hätte der Bundeswehr entgehen können, aber das wollte er nicht. Wenn es so sei, sei es so. Fatalistisch, aber auch irgendwie stolz, als käme es darauf an, mit richtigen Männern zusammen zu sein, integriert und angenommen. Es sei schließlich amüsant, dass ausgerechnet er, Markus Trecker, ein Schwuler, diesen
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