Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
Heteros den Marsch pfeifen durfte.
Vor einigen Monaten kehrte Mark von der Bundeswehr zurück. Vor der offiziellen Zeit. Er hatte sich verändert, zog sich in sich zurück und nach anfänglicher Eifersucht sorgte Arndt sich um seinen Liebsten. Er erfuhr, dass Mark Blödsinn gemacht hatte, dass er seinen Dienst mit einem Angelausflug verwechselt hatte und für zwei Wochen eingebuchtet worden war. Er begriff, dass man Mark anklagen und verurteilen würde. Vermutlich zu einer Gefängnisstrafe.
Knast und Schwulsein passen nicht zusammen.
Knast und Schwulsein ist das Ende.
Nun ist Mark tot.
Ist dahin für alle Zeit und lässt Arndt alleine zurück.
Was sagten Arndts geliebte große Autoren dazu? Keine aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate, sondern wahre Weisheiten? Er überlegt, doch sein Kopf ist leer, völlig ausgelaugt. Hesse, Mann, Dickens, Dostojewski? Balzac würde Rat wissen, oder Zola, der so viel Leid beschrieben hatte. Arndt stochert in seinem Gedächtnis, sucht den einen Satz, der ihn tröstet ... und findet nichts.
Er erinnert sich an das seltsam frische und lesbare Manuskript, wie hieß es? »Die Tränen der Anderen«. Einen Rest davon hat er irgendwo liegen, im Schreibtisch vermutlich. Das meiste ist verweht, auf den Schienen der U-Bahn in Berlin-Mitte. Schwach erinnert er sich an den Autorennnamen. Wille. Thomas Wille. Mehr weiß er nicht, keine Adresse. Hatte er dort etwas gefunden, das ihm helfen würde? Es sind seine Tränen. Nicht die der Anderen. Nein, seine eigenen Tränen, die er festhält und nicht hergibt.
Ist Literatur schließlich unfähig, den wirklichen Stimmungen des Lebens Vorschub zu leisten? Findet das Leben doch nicht zwischen Buchdeckeln statt, sondern hier und jetzt, mit einem Rest baumelnder Schnur am Holzbalken?
Arndt lässt seinen Tränen freien Lauf.
Er hasst es, auf seine Sexualität reduziert zu werden, doch er weiß, dass er sich vermeintliche Normalität nur vorgaukelt. Sie haben ihn schräg angesehen. Die Polizisten. Der Arzt. Die Sanitäter. Und er will nicht wissen, was sie dachten. Er kennt die Gedanken, denn man sagt sie ihm ins Gesicht. Keine Hemmungen, jedermann ein Pharisäer.
Es gibt eine Szene in Berlin, wo man sich begegnet, wo man sein darf, wie man ist. Aber Mark wollte das nicht. Er verweigerte sich der Szene. Es gibt das »Moby Dick« in der Grolmannstraße, wo man diskutiert, eine Gruppe zu bilden, die man jetzt schon die AHA nennt, die Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft. Es gibt den Volkspark am RIAS, wo sich die Sadomasoszene trifft und sich Schwule wie Nutten anbieten.
Er wolle kein analytischer Berufsschwuler sein, beharrte Mark. Er hielt es mit Rosa von Praunheim, der gesagt hatte, dass die Situation, die die Schwulen in Clubs und Saunen treibe, eben die schizophrene Subkultur sei. Praunheims Film, »Nicht der Homosexuelle ...«, lief Anfang 1973 in der ARD und nach ein paar Minuten schaltete sich der brave Heterosender Bayern aus. Von Sittenzersetzung und dem Aufstand der Perversen war die Rede. Wie konnte es ein schwuler Regisseur, ein abnormer Gesäßsexualist, wagen, einen solchen Film zu machen?
Liebe Güte ... Arndt und Mark hatten gelacht, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Sie hatten sich nicht mehr eingekriegt. Das war ein Skandal, der es in sich hatte. Ein Skandal, der Spaß machte und die Volksseele zum kochen brachte.
Schon vier Jahre vorher war der § 175 des Strafgesetzbuches gefallen und damit die Kriminalisierung der widernatürlichen Unzucht unter Männern.
Toleranter wurde niemand.
Man bekam eins auf die Fresse und durfte sich trollen.
Arndt liebte Mark.
Er liebte ihn mit seiner ganzen Seele.
Nie kam ihm in den Sinn, Mark zu hassen, da er in ihm möglicherweise sein eigenes Unglück sah. Nie gab er sich selbst die Schuld, wie es üblich war. Es mochte lächerlich klingen, aber sie lebten wie ein ganz normales Ehepaar, auch wenn Mark nicht im Mietvertrag stand.
Arndt war stolz auf Mark gewesen. Auf dessen klare Sichtweise. Markus Trecker wollte nicht den einfachen Ausweg, nämlich den Schwulen als Opfer der Heterogesellschaft hinzustellen und über die Diskriminierung von außen zu klagen. Es nütze nur provozierende Selbstkritik, um sich aus der schwulen Subkultur hinauszuhelfen. Mark war wütend auf jene, die er schwule, verlogene und anpassungswillige Kleinbürger nannte, die sich bereitwillig aufs Sexuelle reduzieren ließen, um sich mit Lust sich selbst gegenüber repressiv zu verhalten, obwohl
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