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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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wie er sich gegenüber dem Arzt verhalten musste. Man wartete auf die Deckungszusage, dann ging der Kunde ins Krankenhaus, datierte den Unfall nach, und ein entsprechendes Gutachten sorgte für eine kräftige Versicherungszahlung - es handelte sich um einen schnell geschlossenen Vergleich - die man sich teilte. Der Mann würde nie wieder normal laufen können. Der Schaden war irreparabel. Das war vor zwei Jahren gewesen und der Fall hatte geschlummert. Bei einer Revision war man Otto auf die Schliche gekommen, zumindest gab es einen Verdacht. Inzwischen waren die Versicherungsbedingungen verschärft worden und bald würde es so sein, dass Versicherungsgesellschaften Berufsunfähigkeitsansprüche grundsätzlich ablehnten oder prozessierten. Man würde nur noch auf Nummer sicher gehen. Von dieser Verfahrensweise ahnten die gutgläubigen Versicherten nichts.
    Otto hatte mit offenen Händen in den Topf gegriffen und sich bedient. In mancher Hinsicht waren deutsche Versicherer derzeit noch genauso naiv wie ihre zahlenden Kunden. Ein schlechtes Gewissen hatte er deswegen nicht. Die fünfzigtausend Mark investierte er in eine Wohnung für Giselle und sie verwöhnte ihn mit allem, was er sich wünschte.
    Die Kündigung kam überraschend, war gefällig, aber eindeutig und Otto ging nach Hause, ohne dass man ihm etwas nachweisen konnte. Sein Ruf war beschädigt, aber andererseits als Starverkäufer so gut, dass er überall Arbeit finden würde, wenn auch nicht mehr in gehobenen Positionen.
    Und nun fragte Tom nach Arbeit. Der Junge hatte selbstverständlich spitzgekriegt, dass man mit Versicherungen das Geld nur so scheffelte, denn der deutsche Bürger sehnte sich nach nichts so sehr, wie nach Sicherheit und nach einer abgesicherten Zukunft. Man ließ sich alles erzählen und glaubte das Blaue vom Himmel. Goldene Zeiten für Drücker.
    Bevor Otto Jäckel sich weiter in Erinnerungen und Überlegungen vertiefen konnte, klingelte es. Er öffnete und staunte. Das war Thomas Wille? Der kleine Tom?
    »Hallo, Onkel Otto«, sagte der junge, hochaufgeschossene Mann, der eine seltsame Ähnlichkeit mit diesem Beatle aufwies, der gesagt hatte, sie seien größer als Gott, wie hieß er denn noch? Paul, ja Paul.
    » Tom?«
    » Darf ich reinkommen?«
    » Oh, Junge – bist du groß geworden.« Otto nimmt Thomas in den Arm, man drückt sich und Otto geht voran ins Wohnzimmer. »Setz dich, Junge, setz dich doch«, sagt er und irgendwie ist er etwas unsicher. Zu sehr gleicht Thomas seinem Vater, wenn er auch einen Kopf größer zu sein scheint.
    Das Telefon klingelt und Otto entschuldigt sich. Es ist Giselle.
    » Wann kommst du zu mir?«
    » Später, Liebes, später. Ich habe Besuch.«
    » Bringst du mir was Schönes mit?«
    » An was denkst du?«
    » Lass dir was einfallen.« Eine kleine Pause, in der er ihren Atem hört. »Ich habe neue Dessous.«
    Otto schluckt.
    »In Rot.«
    » Ich beeile mich«, sagt er und der Hörer in seiner Hand wird glitschig vom Schweiß.
    Er geht zurück ins Wohnzimmer, wo Tom – oder soll er ihn jetzt Thomas nennen? – wo sein Neffe es sich zwanglos bequem gemacht hat. Der Junge hat dunkle Ränder unter den Augen, und wenn Otto sich konzentriert, nimmt er einen feinen süßlichen Geruch wahr. Alkohol, den Tom ausdünstet. Was ist mit ihm los? Der ehemals kleine Tom und der nun erwachsene junge Mann stehen in keinem Zusammenhang, und Otto fragt sich, wie fremd einem das eigene Blut werden kann. Alkohol und der kleine Tom, das passt nicht zusammen. Andererseits gefällt Otto die Selbstverständlichkeit, mit der Tom seine Beine ausstreckt. Er versucht, sich den Jungen in einem Anzug vorzustellen. Die Haare müssen kürzer sein, dann wird Thomas Wille eine prächtige Figur abgeben. Die Stimme seines Neffen ist dunkel und angenehm und seine Körpersprache strahlt Persönlichkeit aus.
    Der geborene Verkäufer. Thomas weiß das noch nicht, aber mit Ottos Training wird es nur ein paar Tage dauern und er wird Scheine schreiben, bis der Koffer platzt. Das bisschen Fachwissen wird er schnell lernen, schließlich ist er ein intelligenter Kerl. Und Geld stinkt nicht.
    Otto nimmt das Weinbrandglas, in dem noch etwas schwappt und fragt: »Ein Bier oder auch einen Weinbrand?«
    » Hast du ne Cola?«
    » Na klar, im Kühlschrank.«
    » Lass mal, ich hole sie selbst.«
    Auch das gefällt Otto, obwohl Thomas ein bisschen rumkramen muss, um die Küche und den Kühlschrank zu finden. Der Junge nimmt den Raum ein, und so wird es in

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