Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
reagierten viel zu langsam. Zu lange war das Baby in Ottilies Mutterleib ohne Sauerstoff, in dem kleinen Hirn hatte sich Wasser gebildet, die Nieren versagten und das Herz hüpfte und wollte ausruhen.
Man brachte das Wesen ins Leben zurück.
Nun sitzt Jasmina nebenan, in einem schmalen Kindersessel, den Papa – im Gegensatz zu Tom nennt Ottilie ihren Vater noch so - mit Gurten versehen hat, damit sie nicht herausfallen kann.
Ja, dieses Blatt macht ihr Mut, denn wer so etwas überlebt, ist ein Kind Gottes. Ottilie war nie gläubig, aber an eine übergeordnete Kraft glaubt sie, wenn auch erst, seitdem Jasmina auf der Welt ist. Jonathan, dieser Arsch, verließ Ottilie nach ein paar Wochen. Er sagte, er könne das Gesabber des Kindes nicht ertragen und wolle sich das für die Zukunft ersparen. Jonathan verfügte über eine ausgeprägte Einbildungskraft, denn als Baby war Jasmina von anderen Babys nur zu unterscheiden, wenn man wusste, was sie erlitten hatte. Vermutlich war es für den Mann, den sie einst liebte und nun verabscheut, eine praktische Ausrede, um sich von einer Frau zu trennen, mit der er viel zu jung und viel zu früh ein Kind hatte.
Nachdem Ottilie den Text gelesen hat, staunt sie im Spiegel darüber, wie hübsch sie noch ist, dem Kummer zum Trotz. Zwar sind die blonden Haare nicht mehr ganz so lang und nicht mehr ganz so lockig und ihr Gesicht hat eine Schärfe bekommen, die an Mutter erinnert, aber ihre Augen sind noch lebendig und die Lippen sinnlich. Sie könnte die meisten Männer haben und hatte Jonathan. Er ist auch heute noch ein schöner Mann und diese Schönheit, gepaart mit Ottilies Klarheit, hat Jasmina geerbt.
Dieses Erbe ist das Glück des behinderten Kindes.
Große, fragende Augen, ein fast durchscheinendes Gesicht, lockig blonde Haare wie ein kleiner Engel, eine Stupsnase und volle Lippen, der Traum eines Kleinkindmädchens.
Gott nahm ihr den Verstand und schenkte ihr Charisma.
Diese Ausstrahlung, die Ottilie hin und wieder feenhaft findet, führt dazu, dass sogar Menschen, die Behinderten am liebsten aus dem Wege gehen, sich sogleich in Jasmina verlieben. Die Kleine blickt diejenigen vielleicht an - was man nie so genau weiß, denn es könnte auch sein, dass sie blickt und gleichzeitig in sich hineinschaut - und in ihren Augen schimmert ein Zauber, der alles bedeuten kann und den viele für unbeantwortete Fragen halten, so, als blicke sie den Menschen direkt in die Seele. Das ist stets ein magischer Moment, an den selbst Ottilie sich bis heute nicht wirklich gewöhnt hat, denn niemand weiß, was in diesem kleinen hübschen Kopf vor sich geht. Wenn der Blick das Fenster zur Seele ist, ist Jasminas Fenster klar und trübe zugleich.
Sieht sie mehr, als man glaubt?
Schafft sie sich eigene Bilder, die sie nicht artikulieren kann?
Möchte sie, ist aber gefangen im eigenen Körper?
Eine Mischung aus Mitleid und Faszination überkommt die meisten Menschen, die sich mit Jasmina beschäftigen. So wirkt sie erzieherisch und schafft Gutes, indem sie Gedanken verändert und für Toleranz wirbt.
Ottilie ist dankbar, dass das Mädchen nicht eines jener verwachsenen Kinder ist, die mit verzerrter Fratze und spastisch verkrümmtem Körper abschrecken. Auch Jasmina ist verkrümmt, auch ihre Arme zeigen in falsche Winkel und die Hände hängen wie Obst am Baum, doch bei ihr wirkt es, als müsse es so sein, als sei sie ein Gesamtkunstwerk, das Gott voller Bedacht schuf.
Unendlich dankbar ist Ottilie für die Bilder, die Jasmina im Kindergarten malt, für jeden winzigen Blitz des Erkennens und dafür, dass sie hin und wieder Trotz und Aufbegehren bei ihr spürt, was sie alltäglich annähernd gesund wirken lässt, genauso, wie jedes beliebige Kind. In den Bildern meint sie Geschichten zu lesen. Gleichmäßige Farbtupfer auf Papier, große runde Flecken, die der Sonne oder dem Mond ähneln oder feine Striche, die durcheinanderlaufen, wie vielleicht vieles durcheinanderläuft in diesem Gehirn, in das sie nicht dringen kann.
Hätte sie die Wahl, ihrer Tochter die Gabe des Laufens oder die der Sprache zu schenken, würde sie sich für die Sprache entscheiden.
Was, Jasmina, denkst du? Denkst du überhaupt oder ähnelst du einem instinktgesteuerten Tier? Nein, ich weiß, dass du reflektierst, denn ich spüre deine Zuwendung, die eindeutig liebevoll ist. Einmal nur möchte ich deine Stimme hören. Nicht deine verwirrenden, selbstgeschöpften Worte, Eigengewächse ohne vermeintlichen Sinn, sondern
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