Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
-Acetyl- p -benzochinonimin, unter Bildung ungiftiger Konjugate abfängt. Das hat Ottilie später nachgelesen, aber begriffen hat sie es bis heute nicht. Zu viele Fremdworte, zu wenig Ergebnis.
» Wie stehen die Chancen?«, fragt Papa. Ottilie hat ihn noch nie so bleich gesehen.
Der Arzt, es ist nicht der, mit dem Ottilie sich gestritten hat, reibt sein Kinn. Er senkt den Blick und das ist Antwort genug.
»Wie lange noch?«, fragt Ottilie. Jedes Wort ist wie ein Krampf, wohingegen sie sich ansonsten kalt und überlegt fühlt. Sie steht unter Schock, wird sie später erkennen.
» Zwei oder drei Tage«, sagt der Arzt.
» Mit den Medikamenten, die Sie ihr geben?«
» Ja. Vielleicht geht es auch gut, aber, um ehrlich zu sein ...« Wieder blickt der Arzt zu Boden. Er ist noch jung und den Tod noch nicht gewohnt.
Es dauert nur wenige Stunden und alles ist so vorbereitet, dass Ottilie ihre Tochter nachhause mitnehmen kann. Wenn sie stirbt, soll sie es dort tun, wo sie gelacht hat, dort, wo sie sich wohlgefühlt hat, in den heimischen Wänden bei ihrer Mutter.
Und dort bricht es aus Ottilie hervor. Während Jasmina schläft, paaren sich Zorn und Mitleid, Kummer und Selbstvorwürfe. Sie hätte auf ihren Bauch hören sollen. Sie weiß, dass Paracetamol hohe Nebenwirkungen haben kann, dass Jasminas Körper zu geschädigt ist, um das Medikament problemlos abzubauen. Und doch hörte sie auf den Arzt, der ihr die Schmerztabletten empfahl.
Sind diese Mediziner allesamt Narren?
Sie verhielten sich närrisch während der Geburt.
Sie verhalten sich närrisch, wenn Ottilie zu viel Fachwissen beweist, und flüchten sich in überhebliche »Fräuleins«.
Oder ist sie selbst eine Närrin?
Eine, die daran glaubt, dass Jasmina fünfzig werden kann, wenn es Gott oder wem auch immer, gefällt. Eine, die ihr gesamtes Privatleben der Pflege opfert und darüber von Jahr zu Jahr mehr vereinsamt und früher oder später verbittert. Eine, die nicht loslassen kann?
Nun wäre es so weit.
Jasminas Tod bedeutete ihre Freiheit.
Ein Neubeginn. Ein anderer Mann und vielleicht ein neues Kind. Eine richtige Familie.
Mit Jasmina bliebe ihr das verwehrt, denn kein Mann wird sich an eine Frau binden, die ein behindertes Kind hat. Und wo, liebe Güte, soll sie überhaupt einen Mann kennenlernen?
Und doch will sie das nicht, denn sie liebt Jasmina.
Sie liebt die Kleine stärker, als sie selbst glauben mag. Vielleicht eben, weil es behindert und hilflos ist und eine Verantwortung dadurch geschaffen wird, der man sich bei einem gesunden Kind entziehen kann.
Bitte, sterbe nicht!, denkt sie und trocknet ihre Tränen.
Sie legt Musik auf, Andreas Vollenweider, dessen Harfenklänge sie stets trösteten und neuen Mut schenkten. Sie lehnt sich auf dem Stuhl zurück und betrachtet Jasmina, die in einem schmalen Bett liegt und deren Lider zucken. Im Takt? Vernimmt auch sie diese Musik und gewinnt ihr etwas ab?
Bitte, bitte, sterbe nicht!
So vergehen Stunden, zwei Tage, drei Tage und alles ist unverändert. Vor Ottilies Augen verschwimmt die Welt, ihre Haut ist fettig und juckt, ihr Rücken schmerzt und ihr Magen knurrt, denn sie isst zu wenig. Sie verlässt das Kind nur, wenn es gar nicht anders geht oder die Natur ruft. Sie will dabei sein, wenn Jasmina den letzten Atemzug tut.
Papa und Mama kommen vorbei, aber Ottilie wimmelt sie ab, was Mama wieder die altbekannte Härte ins Gesicht malt, wohingegen Papa besonnen und nachsichtig reagiert. Sie entzieht ihrer Mutter Kontrolle, und das mag Lotte Wille nicht. Doch vorbei sind die Zeiten, da ihr diese Frau die Hände in unerträglich heißes Wasser drückte, um die kleine Tochter daran zu gewöhnen, wie man spült. Für wen spülen? Für einen Mistkerl wie Jonathan?
Sie will niemanden bei sich haben. Braucht keinen Trost. Und falls sie ihn braucht, will sie das, was kommen wird, alleine durchleiden. Es sind vermutlich die letzten Stunden mit Jasmina und die wird ihr niemand nehmen, auch Mama nicht.
Ihr Blick fällt auf den Beutel und ihr stockt der Atem. Das Rot ist in ein fahles Gelb übergegangen, ganz so, als schiebe sich die Sonne über den Horizont. Mit bebenden Händen leert Ottilie den Beutel und dann sitzt sie daneben und starrt den kleinen Plastiksack an.
Ihre Lippen murmeln Worte vor sich hin, die sie selbst nicht begreift und dann, endlich, fließt etwas in den Beutel und es ist gelb. Sauber und gelb. Der saubere Urin strahlt wie ein Licht.
Im selben Moment schlägt Jasmina die Augen
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