Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
auf. Speichel läuft ihr aus dem Mund, die Arme heben sich, die verkrümmten Hände wackeln und sie lacht.
Sie lacht!
Ottilie liebt dieses Lachen. Es ist ohne Arg und voller Gegenwart. Das Kind lacht und sieht ihre Mutter an und in diesem Moment bergreift Ottilie, dass Jasmina mehr sieht, als sie alle vermuten. Auf ihre eigene Art sieht, mit ihrer eigenen Wahrnehmung.
Und Ottilie springt auf. Lacht auch und stößt sich, unvorsichtig und übermütig, den Unterschenkel am Stuhl - oder an der Tischkante? Unwichtig! Sie achtet nicht darauf. Es tut verdammt weh, ein brennender, heißer Schmerz! Gebrochen? Geprellt? Auch unwichtig!
Während abscheuliche Schmerzen sie durchfluten, lacht Ottilie und weint und lacht wieder, denn noch nie hat sie Schmerzen so genossen.
Deshalb braucht sie den Zettel, kehrt sie aus der Erinnerung zurück.
Um sich darüber klar zu sein, wie nahe Jasmina dem Tod stand und jederzeit steht, und wie wichtig jede gemeinsame Minute mit ihr ist. Das schenkt ihr Kraft, wenn sie zu versagen droht. Wenn sie den Zettel liest, weiß sie, dass Jasmina nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit nicht mehr leben kann, nicht leben darf. Und doch tut sie es. Es muss einen Grund dafür geben.
Das Mädchen liegt in seinem Gitterbett. Oh, süßer Schlaf!
Ottilie freut sich darauf, die Kleine zu wecken und sie freut sich darauf, sie im Arm zu halten. Was man verliert, gleicht sich aus und kann zu einem Gewinn werden.
Ottilie hat vieles verloren.
Doch sie hat gelernt, was Demut ist. Vielleicht ist das ein guter Grund. Sie hat gelernt, was Liebe und Hingabe bedeuten. Und sie erfasst, wie sehr sie Goethes Ottilie ähnelt, nach der ihr Vater sie benannt hat.
20
Onkel Otto betritt das Haus. Er wirft die Tür hinter sich zu. Sein glattes Gesicht wirkt zerknirscht, und als der Mann ins Wohnzimmer kommt, runzelt Thomas die Brauen.
» Um es kurz zu machen«, sagt Onkel Otto. »Ich habe schlechte Nachrichten für dich. Meine Versicherungsgesellschaft stellt gegenwärtig niemanden ein. Das tut mir leid, aber auch ich kann nichts daran ändern. Ich schlage dir vor, dich vielleicht nicht in Berlin, sondern in Dortmund zu bewerben. Es gibt so viele Versicherungen, bestimmt wird dich eine nehmen. Zur Not musst du ganz unten anfangen, Klinken putzen und so. Aber egal, was du machst, du wirst immer sehr viel Geld verdienen, wenn du fleißig bist.«
Thomas schaut betrübt.
»Na, na. Nun zieh nicht so ein Gesicht. Ich werde dich trainieren. Dann erfährst du, wie du dich am besten verkaufst. Ich weiß schließlich, welches Auftreten man bei Versicherungen erwartet.«
Thomas reckt sich und zieht eine Schnute. »Ich dachte, hier in Berlin ist es einfacher, eine Arbeit zu finden.«
Otto lächelt schräg. »Und dann habe ich noch eine weitere Nachricht. Ich habe mich mit Michael Stern getroffen.«
Thomas fährt hoch. »Ohne mich? Verdammt, ich kenne Mike gut und wir verstehen uns bestens. Vielleicht ...«
Otto wischt Thomas’ Worte mit einer Handbewegung weg. »Ich kenne mich mit dem Urheberrecht besser aus als du, wusste aber nicht, dass sich die Gesetzeslage geändert hat. Ich habe einen befreundeten Anwalt konsultiert, schließlich beschäftigen wir die besten aller Rechtsverdreher. Und obwohl die Karten schlecht gemischt sind, habe ich versucht, diesem Reporter Geld aus den Rippen zu ziehen. Doch der ist nicht blöd und hat mich nur ausgelacht. Ich fürchte, mein Junge, wir werden nichts machen können. Man erkennt deinen Vater auf dem Bild nur, wenn man weiß, wer er ist. Also besteht kein Recht auf das Foto. Frank, dein Vater, wird kein Geld bekommen.«
Thomas lässt sich wieder in den Sessel fallen. Er nickt resigniert. »Dachte ich mir irgendwie. Aber einen Versuch war’s wert. Du bist ein super Onkel.«
Otto blickt zum Fenster. Dann sagt er: »Ich empfehle dir, den Kontakt mit Stern zu meiden. Er ist ziemlich sauer und vermutet, ich sei auf dein Betreiben bei ihm gewesen. Ich habe versucht, es ihm auszureden, aber er meinte, er sei froh, dass du nicht in Berlin lebst, sondern im Ruhrgebiet. Ich glaube, mit dem ist nicht gut Kirschen essen.«
» So habe ich ihn nicht in Erinnerung. Was meinst du, wenn ich ihn anrufe und mich mit ihm treffe? Dann kann ich ihm erklären, dass ...«
» Unsinn! Schließlich warst du es, der mich auf die Sache angesetzt hat, wenn du ehrlich bist. Das war auch dein gutes Recht, aber jetzt hast du die Gewissheit, dass Stern ein Betrüger ist. Als ich versuchte,
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