Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
könnten es und tun es nicht. Welche Vergeudung! Vielleicht, lieber Wille, wäre ich gerne wie Sie ... andererseits stoßen Sie mich ab, denn Sie sind hohl und fade, bei all ihrer Intellektualität sind sie nicht mehr als ein Blatt Papier, das man mit klugen Worten beschrieben hat. Alles ist falsch verteilt.« Seine Stimme hört sich weich und verletzlich an. »Werden Sie ein Mensch, Wille. Hören sie auf, sich zu hassen. Erlernen Sie echtes Selbstbewusstsein und werfen sie Ihre verdammten Krücken weg. Nur wenn Sie sich selbst lieben, können Sie andere Menschen lieben.«
Der kleine Mann verschwindet hinter einem Regal.
» Ja, auch ich hatte auch ein Kassengestell«, murmelt Thomas. Er presst die Lippen aufeinander, nickt, sagt nichts, dreht sich um und verlässt den Geräteschuppen.
Am 8. Dezember 1980 wird Thomas Wille entlassen. Die Reserveübung ist beendet.
Er kommt nach Hause und die Wohnung ist leer. Lydia ist im Krankenhaus. Es riecht nach Staub und abgestandenem Zigarettenqualm. Er lüftet die Wohnung und duscht.
Er schaltet das Fernsehen an und sieht sich die Mitternachtsnachrichten an. Er erstarrt, als er die wichtigste Meldung des Tages hört.
Gegen 22:50 Uhr wurde John Lennon vom Attentäter Mark David Chapman in New York vor dem Dakota Building erschossen.
Thomas traut seinen Ohren nicht und wird traurig. Er trinkt eine, dann noch eine Flasche Bier, von denen stets genug im Kühlschrank sind, und wirft sich auf die Couch. Er könnte ins Krankenhaus fahren. Lydia weiß, dass er heute zurückgekommen ist, aber er ist erschöpft und wird sie morgen besuchen.
John Lennon ist tot!
Liebe Güte, ist denn die ganze Welt verrückt geworden?
Er erinnert sich an seinen Klassenlehrer Martin Schönfeld. Martin hatte ihm die ersten Griffe auf der Gitarre beigebracht und die Freude an der Rockmusik geweckt. Irgendwann verlor man sich aus den Augen, doch nun ist die Zeit gekommen, ihn anzurufen.
Nach einigem Suchen findet er die Nummer in einer Schublade.
Der Ruf geht durch, doch niemand geht dran. Soeben will Thomas auflegen, als er Martins Stimme hört. Inzwischen hat er drei Flaschen intus und ist gesprächiger als sonst.
» John Lennon ist tot«, sagt Thomas.
» Wer spricht da?«
» Ich bin’s, Tom. Tom Wille.«
» Ich glaub’s nicht. Dich gibt es noch? Junge, wir haben lange nichts mehr voneinander gehört.«
Sie betreiben eine kleine Weile Konversation, dann sagt Martin: »Ja, Lennon wurde erschossen. Ist das nicht grauenvoll?«
» Und meine Freundin hat einen Fuß verloren, das ist auch grauenvoll.«
Die vierte Flasche Bier, dann ist der Vorrat aufgebraucht.
»Ich weiß, ich hab’s im Fernsehen gesehen. Wie geht es deinem Vater?«
» Er hat es überlebt. Ist ein harter Brocken.«
» Machst du noch Musik?«
Thomas lacht. »Ich verkaufe Versicherungen. Bin ein richtiges Ass. Lebensversicherungen für die ängstlichen Bürger. Altersvorsorge, verstehst du?«
» Dann geht es dir gut. Zumindest finanziell. Das freut mich.«
Und Thomas spürt die Distanz. Die Stimme ist seltsam vertraut und die Erinnerungen klar und präsent, und doch ist es eine Stimme aus der Vergangenheit mit einer erloschenen Geschichte und verwehten Akkorden. Hat er Martin gestört? Oder ist es seinem ehemaligen Klassenlehrer peinlich, an das Früher erinnert zu werden? An die Sache mit Frau Marek, seiner Mutter, oder allem, was geschehen ist?
»Ich wollte mich nur mal melden.«
» Ich weiß, Tom. Und das freut mich.«
» Ja? Wirklich?«
» Na klar.«
» Okay, dann hol ich mir noch ein Bier. Wir sprechen später nochmal miteinander, okay?«
» Na klar doch, Tom. Mach’s gut und trink nicht zu viel.«
» Nee, nee.«
Und vorbei ist es. Der Hörer liegt auf und Thomas hat das Gefühl, das Telefonat hätte nie stattgefunden. Da war niemand, mit dem er über Lennon sprechen konnte. Das kann er mit keinem. Auch nicht mit Lydia, und Freunde besitzt er nicht, falls er jemals welche hatte.
Werden Sie ein Mensch, Wille. Hören sie auf, sich zu hassen.
Er weiß, dass Lydia was dagegen hat, wenn er angetrunken ist und nach Bier stinkt, dennoch ruft er ein Taxi. Er wird jetzt zu ihr fahren, und er wird ihr sagen, dass er sie liebt und vermisst hat, und – verdammt noch mal – wenn es sein muss, wird er selbst ihr die Prothese umschnallen und mit ihr üben, wie man damit läuft. Es wird Zeit, sich der Gegenwart zu stellen. Einer Gegenwart, in der Menschen erschossen werden, deren Kunst die halbe Welt erfreut
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