Die Mitternachtsrose
seiner Selbst verloren. Was ja letztlich auch stimmte, seufzte er.
In den wenigen Stunden, in denen er wach lag, starrte er die Decke an und fragte sich, wo die Entschlossenheit geblieben war, die ihn in den vergangenen fünfzehn Jahren angetrieben hatte. Anrufe aus dem Büro beantwortete er nicht, weil er einfach nicht die Kraft dazu besaß.
Am Dienstagabend stolperte er auf die helle Terrasse hinaus und dachte, während er das Treiben unter ihm beobachtete, über seine Zukunft nach, die sich vor ihm auftat wie ein tiefer, dunkler Abgrund. Er stützte den Kopf in die Hände. » Lali, es tut mir so leid « , flüsterte er.
Da hörte er innen den Summer. In der Hoffnung, dass sie es war, rannte er hin.
» Hallo? «
» Ari, ich bin’s, deine Mutter. «
» Komm rauf « , sagte er enttäuscht, jedoch auch überrascht: Seine Eltern wohnten fünf Autostunden von Mumbai entfernt.
» Mein Sohn. « Samina breitete die Arme aus, als Ari ihr die Tür öffnete.
In dem Moment lösten sich die Anspannung und Verbitterung der vergangenen zehn Jahre, und Ari schluchzte in den Armen seiner Mutter wie ein Kind.
» Es tut mir so leid, Ma. «
» Ari. « Samina strich ihm lächelnd die Haare aus der Stirn. » Du bist in den Schoß deiner Familie zurückgekehrt, nur das zählt. Wie wär’s, wenn du deiner alten Mutter eine Tasse Tee anbietest? Es war eine lange Fahrt. «
Am Abend schilderte Ari ihr die Gedanken, die er in den vergangenen Tagen gewälzt hatte, und wie düster er seine Zukunft sah.
» Immerhin kommen deine Worte nun aus deinem Herzen und nicht aus deinem Dickschädel « , stellte Samina fest. » Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, wo mein Sohn geblieben war und ob er je zu mir zurückkehren würde. Es ist ein guter Anfang. Du hast eine wichtige Lektion gelernt, nämlich dass Zufriedenheit viele Ursachen hat. Geld und Erfolg allein machen nicht glücklich, wenn dein Herz kalt bleibt. «
» Anahita hat damals fast genau das Gleiche zu mir gesagt « , erklärte Ari. » Und dass mir das eines Tages bewusst werden würde. «
» Deine Urgroßmutter war eine sehr kluge Frau. «
» Ja, und ich schäme mich zutiefst, dass ich nicht bei ihrer Beisetzung war. «
» Wenn du wie sie an die Welt der Geister glaubst, wirst du feststellen, dass sie hier bei uns ist und deine Entschuldigung annimmt. Aber jetzt … « , sie gähnte, » … bin ich nach der langen Reise müde und würde mich gern ein wenig ausruhen. «
» Natürlich « , sagte Ari und führte sie nach unten in das geschmackvoll eingerichtete Gästezimmer.
» So viel Platz für dich allein « , bemerkte Samina, als Ari ihre Tasche abstellte. » Und eine ganze Nacht ohne das Schnarchen deines Vaters! Vielleicht will ich gar nicht mehr weg von hier. «
» Bleib, solange du möchtest, Ma « , sagte Ari, überrascht darüber, dass er das tatsächlich so meinte, und verlegen, weil er sie nie zuvor zu sich eingeladen hatte. » Danke, dass du gekommen bist « , fügte er hinzu und gab ihr einen Gutenachtkuss.
» Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Egal, wie groß deine Wohnung ist und wie viel Geld du hast, du bist immer noch mein geliebter Sohn. « Samina streichelte ihm liebevoll die Wange.
Als Ari eine halbe Stunde später ins Bett ging, fühlte er sich merkwürdig getröstet, dass seine Mutter nur wenige Meter von ihm entfernt schlief. Es beschämte ihn, dass sie ihm keine Vorwürfe machte und sofort zu ihm gekommen war. Er musste an Anahita denken und ihre standhafte Weigerung, an den Tod ihres Erstgeborenen zu glauben.
Besaßen Mütter im Hinblick auf ihre Kinder einen sechsten Sinn?
Aris Blick wanderte zu der Kommode, in der die Geschichte seiner Urgroßmutter seit Jahren unangetastet lag, und er wurde rot wie damals bei Anahita.
Er konnte nur hoffen, dass sie ihm seine Untätigkeit nicht verübelte. Ari stand auf und nahm die vergilbten Seiten heraus, die in gestochen scharfer Handschrift auf Englisch beschrieben waren.
Ari spürte, wie seine Lider schwer wurden. Jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, sich dem Text zu widmen, aber er nahm sich vor, am nächsten Tag mit der Lektüre zu beginnen.
Am folgenden Morgen ging Ari mit seiner Mutter zum Frühstücken aus, bevor sie die lange Heimreise antrat.
» Arbeitest du morgen wieder? « , fragte Samina ihn. » Das solltest du. Es lenkt dich ab und ist besser, als weiter allein in deiner seelenlosen Wohnung vor dich hin zu grübeln. «
» Also, weißt du, Ma « , sagte Ari schmunzelnd, » im
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