Die Mitternachtsrose
einen Moment beklagst du dich, dass ich zu viel arbeite, und im nächsten schickst du mich zurück ins Büro! «
» Das Leben sollte immer im Gleichgewicht sein, und das deine musst du noch finden. Dann stellt sich vielleicht auch das Glück ein, nach dem du dich sehnst. Ach, bevor ich’s vergesse… « Samina nahm eine zerlesene Ausgabe von Rudyard Kiplings Rewards and Fairies aus ihrer Handtasche und gab sie Ari. » Das schickt dir dein Vater. Er sagt, du sollst das Gedicht ›If‹ lesen, das er sehr liebt. «
Ari lächelte. » Das kenne ich, aber ich habe mich seit der Schule nicht mehr damit beschäftigt. «
Gleich nachdem seine Mutter weg war, die ihm das Versprechen abgenommen hatte, seine Familie zu besuchen, wenn er aus Europa zurück sei, fuhr Ari ins Büro.
Dort teilte er Dhiren mit, dass er ihm während seines Londonaufenthalts sein Unternehmen anvertraue und möglicherweise länger wegbleiben werde als ursprünglich geplant.
Vierundzwanzig Stunden später bestieg er das Flugzeug nach London und las das Gedicht von Rudyard Kipling, das sein Vater ihm geschickt hatte. Er verstand die Botschaft. Anschließend bestellte er ein Glas Wein und nahm die Geschichte seiner Urgroßmutter aus seiner Aktentasche.
Jaipur, Indien, 1911
6
Anahita
Mein Kind, ich erinnere mich. In der Nacht erscheint schon die sanfteste Brise wie eine himmlische Erholung von der ewigen trockenen Hitze in Jaipur. Oft klettern die Frauen und Kinder der zenana und ich zu den Dächern des Mondpalasts hinauf und schlafen dort.
Jaipur liegt in einer von braunen Wüstenhügeln umgebenen Ebene. Als Kind glaubte ich, am schönsten Ort der Erde zu leben, denn die Stadt hatte etwas Märchenhaftes. In Rosa gehaltene Kuppelhäuser mit kunstvoll gemeißeltem Gitterwerk und Veranden mit eleganten Säulen säumten die breiten Straßen. Der Mondpalast nahm den besten Platz ein– er war sozusagen eine Stadt für sich, umgeben von üppigen Gärten. Das Innere bildete ein Labyrinth, in dem man durch Tore und Bogen in geheimnisvolle Höfe gelangte.
Die Bewohner Jaipurs waren ein buntes Völkchen; die Männer trugen leuchtend gelbe, magentafarbene und rubinrote Turbane. Wenn ich von einer der Terrassen des Palasts auf die Stadt hinabblickte, erinnerten mich die Menschen darin manchmal an geschäftige Ameisen.
In meinem Märchenschloss war es leicht, mich wie eine Prinzessin zu fühlen, denn viele meiner Spielkameradinnen waren tatsächlich von hoher Geburt.
Ich jedoch nicht.
Bis zu meinem neunten Lebensjahr hatte ich in der Stadt gelebt.
Meine Mutter Tira entstammte einer langen Linie von baidh, von Seherinnen und Heilerinnen, und ließ mich schon als kleines Mädchen bei sich sitzen, wenn Leute aus der Stadt mit ihren Problemen zu ihr kamen. In ihrem kleinen Garten hinter dem Haus pflanzte sie zahlreiche duftende Kräuter, mit denen sie ihre ayurvedischen Tränke mischte. Oft sah ich ihr dabei zu, wie sie Guggul, Färberwurzel oder gokhru zu einem Heilmittel verarbeitete. Und die Menschen verließen sie überzeugt davon, dass ihre Liebe erwidert, der Tumor verschwinden oder sie innerhalb des nächsten Monats schwanger werden würden.
Manchmal bat meine Mutter, wenn eine Frau zu uns kam, unsere Dienerin, ein paar Stunden mit mir spazieren zu gehen. Bald schon fiel mir auf, dass die Frau dann für gewöhnlich mit angespannter, furchtsamer Miene auf den Kissen in unserem Hinterzimmer wartete.
Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass meine Mutter half, ungewollte Schwangerschaften zu beenden.
Mein Kind, du denkst jetzt vielleicht, dass das eine Sünde gegen die Götter ist. Für gewöhnlich handelte es sich um Frauen, die bereits ein halbes Dutzend Kinder oder mehr hatten– damals gab es in Indien noch keine Möglichkeit, eine Schwangerschaft zu verhindern–, und die Familien waren so arm, dass sie es sich einfach nicht leisten konnten, weitere hungrige Mäuler durchzufüttern. Umgekehrt halfTira jedoch auch werdenden Müttern bei der Niederkunft. Als ich älter wurde, nahm sie mich mit. Beim ersten Mal hielt ich mir zugegebenermaßen die Augen zu, doch später erkannte ich das Wunder der Geburt.
Manchmal ritten meine Mutter und ich auf dem Pferd, das mein Vater außerhalb der Stadt in einem Stall untergestellt hatte, in die Dörfer außerhalb von Jaipur. Damals begann ich zu begreifen, dass nicht alle mit liebevollen Eltern in einer rosafarbenen Märchenstadt lebten und jeden Abend genug zu essen hatten. Bei diesen Besuchen sah ich
Weitere Kostenlose Bücher