Die Mitternachtsrose
schreckliche Dinge, Armut, Krankheiten, Hunger und Not. Schon in jungen Jahren lernte ich, dass das Leben nicht gerecht ist. Und diese Lektion vergaß ich nie.
Meine Mutter war wie alle Hindus zutiefst abergläubisch. Mein Vater neckte sie manchmal, dass sie mit ihrem Aberglauben in völlig neue Dimensionen vorstoße. Als ich sechs Jahre alt war, wollten wir zu etwas mehr als dreihundert Kilometer entfernt lebenden Verwandten fahren, um mit ihnen holi zu feiern, ein Freudenfest, bei dem man sich gegenseitig mit Farbpulver bewirft, so dass am Abend alle von Kopf bis Fuß bunt sind.
Als wir am Tag der Abreise zum Bahnhof gingen, flog plötzlich unmittelbar vor uns eine weiße Eule auf, und meine Mutter blieb entsetzt stehen.
» Wir können nicht fahren « , erklärte sie meinem Vater und mir. » Wir müssen umkehren. «
Mein Vater, der an den Aberglauben meiner Mutter gewöhnt war und unbedingt seine Verwandten zum holi -Fest besuchen wollte, schüttelte schmunzelnd den Kopf. » Pyari , das war nur ein schöner Vogel, der da vor uns aufgeflogen ist, nichts weiter. «
Obwohl mein Vater mit Engelszungen auf sie einredete, ließ sie sich nicht umstimmen. Am Ende saßen wir zu dritt zu Hause, und mein Vater und ich dachten schmollend an unsere Cousins, Onkel und Tanten, die ihren Spaß beim holi -Fest hatten.
Einen Tag später jedoch erfuhren wir, dass aufgrund von Überschwemmungen eine Brücke unter dem Gewicht des Zuges, den wir hatten nehmen wollen, eingeknickt war, so dass der Zug und die Passagiere in die wirbelnden, schlammig roten Fluten stürzten. Einhundert Menschen aus unserer Stadt kehrten nicht nach Hause zurück.
Danach nahm sogar mein Vater die Ahnungen meiner Mutter ernst. Als ich älter wurde, lehrte meine Mutter mich einfache Heilmittel gegen Husten, Erkältungen und gebrochene Herzen. Sie brachte mir bei, den Mondkalender zu lesen– es gab Zeiten im Monat, in denen die Mischung der Heilmittel besonders wirksam ausfiel. Sie erklärte mir, dass der Mond uns Frauen beeinflusse. Und dass es keine stärkere Kraft gebe als die Natur, die die Götter für uns Menschen erschaffen hätten, um uns mit allem zu versorgen, was wir brauchten.
» Eines Tages, Anni, wirst du die Geister singen hören « , erklärte sie mir, als sie mich ins Bett brachte. » Dann wissen wir, dass auch du die Gabe besitzt. «
Obwohl ich seinerzeit noch nicht verstand, was sie meinte, nickte ich. » Ja, Maaji « , sagte ich, als sie mir einen Gutenachtkuss gab.
In ihrer Familie war man der Ansicht, sie habe unter ihrem Stand geheiratet, weil sie einer hohen Kaste angehörte. Sie war eine Cousine zweiten Grades der Maharani von Jaipur. Damals erschien es mir, als wären alle Menschen, die ich in Indien kannte, irgendwie mit uns verwandt. Meine Mutter war im Alter von zwei Jahren mit einem wohlhabenden Cousin in Bengalen verlobt worden, der jedoch mit sechzehn an Malaria starb. Während die Eltern meiner Mutter nach einem anderen geeigneten Partner suchten, lernte sie beim Navratri -Fest meinen Vater kennen, und sie begannen heimlich eine Affäre mit einer Vielzahl geschmuggelter Briefe.
Als meine Großeltern ihr verkündeten, sie hätten einen Mann um die fünfzig gefunden, der meine Mutter als Drittfrau wolle, drohte sie wegzulaufen, falls sie ihr nicht erlaubten, meinen jungen, attraktiven Vater zu heiraten. Ich weiß nicht, was meine Eltern anstellten, um einander sehen zu können– als ich das Licht der Welt erblickte, hatten sich ihre Geschichten bereits verselbstständigt–, aber am Ende stimmten meine Großeltern der Verbindung widerwillig zu.
» Ich habe deinen Großeltern gesagt, dass ich ihrer Tochter keine Rubine, Perlen und auch keinen Palast bieten kann, dass sie bei mir jedoch immer im Haus der Liebe wohnen wird « , hatte mein Vater mir erzählt. » Und du, meine beti, darfst nicht vergessen, dass Liebe mehr wert ist als alle Schätze im Reich eines Maharadschas. «
Mein Vater Kamalesh war das genaue Gegenteil meiner Mutter. A ls Philosoph und Schriftsteller, dessen Denken sich an Rabindranath Tagore, dem berühmten bengalischen Poeten und Aktivisten, orientierte, verdiente er einen Hungerlohn, indem er monatlich ein Pamphlet mit seinen radikalen Gedanken, besonders über die britische Herrschaft in Indien, veröffentlichte. Er hatte sich selbst Englisch beigebracht und finanzierte seine Schriften ironischerweise dadurch, dass er Inder der höheren Kasten, die die Sprache lernen wollten, um sich mit der
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