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Die Mitternachtsrose

Die Mitternachtsrose

Titel: Die Mitternachtsrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucinda Riley
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britischen Oberschicht verständigen zu können, Englisch lehrte.
    Mich unterrichtete er in Englisch und zahlreichen Fächern wie Geschichte oder Naturwissenschaften. Während andere indische Mädchen die Stickkunst und Gebete an Shiva um einen guten, liebevollen Ehemann erlernten, las ich Charles Darwins Die Entstehung der Arten und beschäftigte mich mit Mathematik. Im Alter von acht Jahren konnte ich außerdem ohne Sattel reiten und galoppierte über die Ebene außerhalb der Stadt hinter meinem Vater her, der mich anfeuerte. Wie alle kleinen Mädchen bewunderte ich meinen Vater maßlos.
    So eröffnete sich mir durch meinen Vater, den radikalen Denker, der Probleme logisch anging, und meine Mutter, die, wenn sie eine Fledermaus im ehelichen Schlafzimmer entdeckte, eine ojha kommen ließ, um das Haus von bösen Geistern zu befreien, eine ungewöhnlich breite Sicht der Welt.
    Einmal, als mein Vater mich auf seinem Schoß tröstete, nachdem ich beobachtet hatte, wie kleine Jungen einen halb verhungerten Hund auf der Straße schlugen, hob er mein Kinn an, um mir die Tränen wegzuwischen.
    » Meine liebe Anni, du hast ein mitleidsvolles Herz, das lauter schlägt als hundert tabla , und wie dein Vater verabscheust du Ungerechtigkeit. Aber pass auf, denn Menschen sind vielschichtig und ihre Seelen oft grau, nicht nur schwarz oder weiß. Wo du Güte zu finden glaubst, wirst du möglicherweise auch Böses entdecken. Und wo du auf den ersten Blick nur Böses siehst, ist vielleicht auch Gutes. «
    Als ich neun Jahre alt war, starb mein Vater plötzlich in einer Typhusepidemie, die unsere Stadt in der Monsunzeit heimsuchte. Nicht einmal die Heilkunst meiner Mutter konnte ihn retten.
    » Seine Zeit war gekommen, pyari, das wusste ich « , erklärte meine Mutter mir.
    Ich hatte Mühe zu verstehen, warum meine Mutter den Tod meines Vaters so gelassen hinnahm. Während ich vor seinem leblosen Körper laut vor mich hin schluchzte, saß sie ganz ruhig und ohne eine einzige Träne zu vergießen bei ihm.
    » Anni, wenn deine Zeit gekommen ist und du gerufen wirst, musst du gehen « , sagte sie. » Daran lässt sich nichts ändern. «
    Ihre Antwort beruhigte mich nicht. Ich schlug kreischend um mich und weigerte mich, von der Seite meines Vaters zu weichen, als sein Leichnam auf den Scheiterhaufen gehoben wurde. Ich erinnere mich, dass ich weggezerrt werden musste, als der swami zu singen begann und das Stroh entzündet wurde. Während beißender Rauch sich in die Luft erhob, wandte ich mich ab und verbarg mich hinter meiner Mutter.
    Nach dem Tod meines Vaters hatten wir kaum noch Geld. Die Maharani von Jaipur bot uns als Cousine meiner Mutter an, dass wir bei ihr wohnen könnten. Also zogen wir von unserem hübschen kleinen Haus in der Stadt in die zenana des Mondpalasts.
    Die zenana war der Ort, an dem die Frauen des Palasts getrennt von den Männern zusammenlebten. Damals hielten sich alle Frauen ab dem Einsetzen der Pubertät an die Tradition der parda. Kein Mann außer dem Ehemann oder nahen männlichen Verwandten durfte ihr Gesicht sehen. Wenn eine von uns erkrankte, musste der Arzt seine Diagnose durch einen Wandschirm hindurch stellen. Und in der Öffentlichkeit waren unsere Gesichter und Körper verhüllt und verschleiert. Heute kann ich mir das kaum noch vorstellen, doch damals kannten wir nichts anderes, es gehörte zum Alltag.
    Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich an den Lärm und das Gewimmel in der zenana gewöhnt hatte. In unserem Haus hatten wir eine Dienerin und einen Jungen gehabt, der sich um den Garten kümmerte. Wenn sie abends gingen, waren wir nur noch zu dritt und konnten immer die Tür zumachen, falls wir unsere Ruhe haben wollten. Im Palast war das anders. Wir lebten, aßen und schliefen gemeinsam. Manchmal sehnte ich mich nach dem Frieden und der Privatsphäre meines alten Zuhauses, wo ich mich ungestört in ein Buch hatte vertiefen können.
    Das Gemeinschaftsleben hatte jedoch auch seine Vorteile. Es mangelte mir nie an Spielkameraden, denn in der zenana gab es viele Mädchen meines Alters. Da war immer jemand, mit dem ich Backgammon spielen konnte oder der mich auf der veena, einem Saiteninstrument, begleitete, wenn ich sang.
    Meine Spielkameradinnen waren alle Töchter der örtlichen Oberschicht mit guten Manieren. Was mir jedoch schrecklich fehlte, waren meine Unterrichtsstunden. Erst in der zenana wurde mir bewusst, wie fortschrittlich mein Vater gewesen war.
    Den Kosenamen » Anni « hatte ich von

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