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Die Mitternachtsrose

Die Mitternachtsrose

Titel: Die Mitternachtsrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucinda Riley
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es sich lediglich um einen Machtkampf handelte, den er bereit war, großmütig zu verlieren. Er hatte keine Sekunde geglaubt, dass Lali die Trennung tatsächlich ernst meinte.
    Als Ari es noch einmal versuchte, erhielt er dieselbe Auskunft. Panik stieg in ihm auf, und er fragte sich, wie er sie aufspüren konnte. Er wusste nur, dass ihre Eltern irgendwo in den verwinkelten Gassen von Dharavi wohnten– er hatte sie einmal besucht, aber keine Ahnung, wie er dorthin gelangt war. Ari zermarterte sich das Gehirn, ob er Freunde von ihr kannte. Doch Lali hatte ihn nicht in den Kreis der jungen Frauen, in dem sie sich bewegte, eingeführt, weil viele ihrer Jugendfreundinnen aus armen Familien stammten wie sie selbst. Ihr war klar gewesen, dass sie diese nicht zu einem Abendessen ins schicke Indigo Café mitnehmen konnte. Ari hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie zu finden waren.
    Er fragte sich, wie er vier Jahre lang unter demselben Dach mit Lali leben und so gut wie nichts über ihre Aktivitäten außerhalb seiner Wohnung hatte wissen können. War es seine Schuld? , überlegte er, während er auf der sonnendurchfluteten Terrasse auf und ab ging.
    Natürlich, gestand er sich schließlich ein, denn er hatte ihren Eltern ziemlich klar zu verstehen gegeben, dass es ihn nicht interessierte, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Nicht einmal Lalis wegen. Sie waren keine schlechten Menschen… arm, ja, aber fleißige und gläubige Hindus, die ihre Kinder nach strengen moralischen Maßstäben erzogen und sich im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten um eine gute Ausbildung für sie bemühten.
    Ari ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen und stützte den Kopf in die Hände. Ihm wurde klar, dass er nicht nur sie, sondern auch das verachtet hatte, wofür sie standen– den blinden Glauben an ihre Götter sowie die demütige Fügung in ihr Schicksal. Sie gehörten dem » alten Indien « an wie seine Eltern, dessen Servilität das Resultat von mehr als hundert Jahren britischer Herrschaft war.
    Der älteren Generation schien nicht klar zu sein, dass die Machtverhältnisse sich verschoben hatten und Unterwürfigkeit nicht mehr nötig war. Sein Volk entwickelte Selbstbewusstsein; nach oben waren keine Grenzen gesetzt.
    Er hatte vor den alten Werten weglaufen wollen, die die Menschen seiner Ansicht nach nur bremsten. In Ari stieg Wut auf. Warum?
    Plötzlich tat er etwas, das er sich jahrelang nicht mehr gestattet hatte. Er stützte den Kopf in die Hände und weinte.
    Ari wusste, dass er die langen dunklen Stunden jenes Wochenendes nicht so schnell vergessen würde, in denen er sich der Wahrheit gestellt hatte. Ob er über den Verlust von Lali trauerte oder über sich selbst, darüber, wie einsam, ichbezogen und wütend er geworden war, wusste er nicht. Er fragte sich, ob er gerade so etwas wie einen Nervenzusammenbruch erlitt, möglicherweise Folge der fünfzehn Jahre, in denen er sich Tag um Tag unerbittlich angetrieben hatte.
    Ja, er hatte tatsächlich ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, dabei jedoch sich selbst vergessen.
    Er versuchte, sich über die Gründe für seinen Zorn und darüber, warum er seine Gefühle und sein Mitleid von früher verloren hatte, klar zu werden, und dachte zurück an seine Internatszeit in England, wo die Jungen auf ihn herabgeblickt hatten, weil er Inder war. Obwohl Indien mehr als vierzig Jahre zuvor unabhängig geworden war, hatte die britische Oberschicht sich damals noch immer überlegen gefühlt.
    Dass seine Eltern so stolz auf ihn gewesen waren, hatte alles noch schlimmer gemacht. Trotz der seiner Meinung nach katastrophalen Folgen der britischen Herrschaft über Indien hatten sich bei ihnen Kultur und Traditionen der einstigen Herren unauslöschlich eingebrannt. Für sie war es nach wie vor das höchste Ziel für einen indischen Jungen, ein britisches Internat zu besuchen.
    Doch Ari wusste, dass, obwohl die fünf Jahre in England seinen Ehrgeiz geweckt hatten, sich den englischen Jungen als ebenbürtig zu erweisen, der absolute Wille zum Erfolg in ihm selbst lag. Ihm war auch klar, dass er, indem er alle Eigenschaften, die sein Volk so einzigartig machten, ausblendete, genauso sehr zum Imperialisten geworden war wie jene, die einmal sein Land beherrscht hatten. Er hatte seine indische Seele verloren.
    Am Sonntagabend verließ Ari seine Wohnanlage und fragte den ersten Passanten, dem er auf der Juhu Tara Road begegnete, nach dem Weg zum nächsten Tempel. Aus Scham erklärte er, er sei

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