Die Mitternachtsrose
Als wir uns näherten, begrüßte das Jungtier Indira mit lautem Trompeten.
» Wie geht’s, meine hübsche Preema? « , fragte Indira und drückte ihr Gesicht gegen den Elefanten. » Ich war bei deiner Geburt dabei, stimmt’s, meine Kleine? « Der Elefant wand den Rüssel um die Taille meiner Freundin, die zwei Büschel Bananen von einem Haufen nahm. » Ditti, ihr mahout, hat mir erlaubt, ihr einen Namen zu geben « , erklärte sie, während sie den kleinen Elefanten fütterte. » Und ich hab sie Preema genannt, geschrieben › P-R-I-M-A ‹, also ›Erste‹. Weil sie der erste Elefant ist, bei dessen Geburt ich dabei gewesen bin. Jetzt nenne ich sie einfach ›meine hübsche Pretty‹. «
Als ich in die sanften Augen des Elefanten blickte, empfand ich lächerliche Eifersucht.
Wie aus dem Nichts tauchte ein klein gewachsener, nussbrauner Inder auf.
» Ditti, benimmt sich meine Pretty ordentlich? «
» Ja, Hoheit, aber ich weiß, dass sie froh sein wird, wieder nach Hause zu kommen. «
» Wie wir alle « , seufzte Indira.
Als wir die Box verließen, neigte der mahout voller Ehrfurcht das Haupt. Zum ersten Mal erlebte ich mit, dass meine Freundin wie eine Prinzessin behandelt wurde. Plötzlich überkam mich Verzweiflung. Das Mädchen, mit dem ich gelacht und gespielt und geredet hatte wie mit einer Schwester, gehörte einer anderen Welt an, in einem fernen Teil Indiens. Und bald schon würde meine Freundin dorthin zurückkehren.
Ich blinzelte meine Tränen weg. Indira war zum Mittelpunkt meiner Welt geworden, ich hingegen bewegte mich nur am Rand der ihren. Bestenfalls hatte ich ein paar Wochen lang zu ihrer Unterhaltung beigetragen. In ihrer Schmetterlingsart würde sie davonflattern und sich anderswo neue Vergnügungen suchen.
Ich versuchte, diese Gedanken beiseitezuschieben und dankbar zu sein für unsere gemeinsame Zeit. Meine Mutter hatte mich immer schon meiner plötzlich eintretenden düsteren Stimmungen wegen gescholten, die sie nicht verstehen konnte. » Du besitzt die Gabe der Zufriedenheit, aber in dir ist auch tiefe Verzweiflung « , hatte sie einmal bemerkt.
» Komm, ich möchte dir noch jemanden vorstellen « , sagte Indira.
Ich schob meine tristen Gedanken beiseite und bemühte mich, ihr ein Lächeln zu schenken.
» Was diesmal? Tier, Ding oder Mensch? «
Indira schmunzelte über diese Anspielung auf ein Spiel, das wir oft spielten.
» Eindeutig Mensch. Ich bringe dich zu meiner Mutter. «
Mein Puls beschleunigte sich. In der zenana von Jaipur war viel die Rede gewesen von der schönen Ayesha, der Maharani von Koch Bihar. Ich hatte gehört, wie Jameera und ihre Mutter boshaft erklärten, dass Ayesha sich, weil sie der Kaiserin von Indien, Victoria höchstpersönlich, einmal im Buckingham Palace gegenübergestanden hatte, für etwas Besseres zu halten schien als die anderen Maharanis.
» Sie spricht Englisch und trägt in Europa westliche Kleidung! « , hatte Jameeras Mutter entrüstet festgestellt. » Aber die Kleider aus den französischen Modeateliers und der Schmuck, mit denen ihr Mann sie überhäuft, machen sie nicht zu einer besseren indischen Ehefrau und nicht zur Königin! «
Mir war klar, dass Jameera und ihre Mutter sie nicht deswegen schlechtmachten. Der eigentliche Grund lag vielmehr darin, dass Jameeras Vater, der vier Tage zuvor von einer informellen Zusammenkunft im Koch-Bihar-Lager zurückgekehrt war, verkündet hatte, die Maharani von Koch Bihar sei die schönste Frau, die er kenne.
Mein Sohn, inzwischen weiß ich, dass Neid unter Frauen nur selten durch die Intelligenz, den Status oder den Schmuck einer Geschlechtsgenossin ausgelöst wird, sondern fast immer durch deren Fähigkeit, Männer in ihren Bann zu ziehen.
» Ma! « , rief Indira, als wir den Frauenbereich des Koch-Bihar-Lagers betraten. » Wo bist du? «
» Hier draußen, mein Schatz « , antwortete eine sanfte Stimme.
Indira zog mich durch eine Reihe von Zelten auf einen hübschen Vorplatz, der im Schatten sich im Wind wiegender Palisanderholzbäume lag. In der Mitte des Hofs plätscherte ein kleiner Brunnen.
» Ich möchte dir meine Freundin Anni vorstellen. Dürfen wir zu dir kommen? «
» Natürlich, ich bin gerade mit dem Frühstück fertig. «
Indiras Mutter ruhte auf Seidenkissen, ein Frühstückstablett auf dem Schoß. Sie stellte es beiseite, stand auf und trat mit ausgebreiteten Armen auf uns zu.
Eine ungewöhnliche Geste für eine Maharani– ich musste mich den Maharanis in meiner zenana
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