Die Mitternachtsrose
so eifrig gefördert hatte, zu nutzen.
Ich spürte, wie sich eine Hand auf meine Schulter legte.
» Anni, Ma hat es mir gesagt. Es tut mir so leid. Ich werde immer für dich da sein und mich um dich kümmern, das verspreche ich dir. «
Indiras Hand tastete nach der meinen. Ich ergriff sie und klammerte mich daran wie an einen Rettungsanker.
Sie nahm mich in den Arm und hielt mich, während ich mich ausweinte. Ich weiß nicht, wie lange wir so verharrten, bevor ich nach einem letzten Adieu an meine Eltern den Tempel verließ, Arm in Arm mit dem einzigen Menschen auf der Welt, dem ich wirklich etwas bedeutete.
In der Nacht löste ich mich, weil ich nicht schlafen konnte, von Indiras warmem Körper, der sich im Bett tröstend an mich schmiegte, und schlich auf die Veranda hinaus, um die wunderbar kühle Nachtluft zu atmen und die hell leuchtenden Sterne zu betrachten.
» Maaji « , flüsterte ich, » ich sollte da oben bei dir sein, nicht ganz allein hier unten! « Wenn ich noch bei meiner Mutter in Jaipur gelebt hätte, das wusste ich, wäre auch ich nicht mehr auf dieser Erde gewesen.
Da hörte ich auf einmal hohes Singen. Ich wandte den Kopf nach links und rechts, ohne jemanden zu sehen. Der Gesang erinnerte mich an die Wiegenlieder meiner Mutter.
Plötzlich fielen mir die Worte meiner Mutter aus fernen Tagen ein, und mir wurde klar, dass ich zum ersten Mal das Singen hörte, das sie mir prophezeit hatte. Ich spürte meine Mutter nahe bei mir, die mir erklärte, dass sie ihre Gabe an mich weitergebe und ich sie hegen solle. Dass meine Zeit noch nicht gekommen sei.
Im September, als der Monsunregen nachließ und die Luft kühler wurde, kehrten wir in den Palast zurück. Dort suchte mich eine alte Frau auf, die ich vom Sehen aus der zenana kannte.
» Anahita, ich habe etwas für dich. «
Als ich sie verwundert anblickte, führte sie mich in eine ruhige Ecke, wo wir uns setzten.
» Weißt du, wer ich bin? «
» Nein. «
» Ich heiße Zeena und bin eine baidh. Ich habe hier im Palast die gleiche Funktion wie deine Mutter in Jaipur. «
» Eine Heilerin? «
» Ja. Als deine Mutter zu Besuch hier war, hatte sie vermutlich eine Vorahnung von ihrem Tod, denn sie hat mir etwas für dich anvertraut und mich gebeten, es dir zu geben, falls ihr etwas zustoßen sollte. « Zeena reichte mir einen mit einer Kordel verschlossenen kleinen Stoffbeutel. » Ich weiß nicht, was drin ist, und würde vorschlagen, dass du dich zum Öffnen an einen Ort zurückziehst, an dem du ungestört bist. «
» Ja, das mache ich. Danke, dass du ihn für mich aufbewahrt hast. «
» Sie hat mir gesagt, dass du ebenfalls die Gabe des Heilens besitzt, und mich gefragt, ob ich dir helfen würde. « Sie bedachte mich mit einem intensiven Blick aus ihren dunklen Augen. » Ich glaube, du besitzt diese Gabe tatsächlich. Wenn du möchtest, bringe ich dir bei, was ich weiß. «
» Meine Mutter hat mir, als ich klein war, prophezeit, dass ihre Gabe auf mich übergehen würde « , erklärte ich, den Tränen nahe. » Ich wusste vom Tod meiner Mutter, bevor die Maharani es mir gesagt hat. «
» Natürlich. « Zeena küsste mich lächelnd auf die Stirn. » Komm zu mir, wenn du bereit bist, von mir zu lernen. «
» Danke, Zeena. «
Ich eilte zu meinem Lieblingsort im Anwesen, einem Durga, der Göttin der weiblichen Urgewalt, geweihten Pavillon, der in einem Wäldchen verborgen lag und an den ich mich oft zum Lesen und Nachdenken zurückzog. Dort setzte ich mich im Schneidersitz hin und öffnete den Beutel, in dem sich das letzte Vermächtnis meiner Mutter befand.
Ich nahm die drei Dinge, die sich darin befanden, heraus und legte sie auf den harten Boden vor mir. Es handelte sich um einen an mich adressierten Umschlag, ein in Leder gebundenes Notizbüchlein und einen kleineren, wiederum mit einer Schnur verschlossenen Jutebeutel. Ich beschloss, zuerst den Brief zu öffnen.
Meine liebste Anni,
pyari , ich hoffe, dass ich mich täusche, aber in der Nacht vor meiner Abreise von Koch Bihar und Dir, meiner geliebten Tochter, haben die Geister für mich gesungen, um mir zu sagen, dass ich mich vorbereiten muss. Ich weiß nicht, wann es passieren wird. Da wir niemals Angst vor der Zukunft haben sollten, bin ich froh, dass ich es nicht weiß. Anahita, meine schöne Tochter, mir ist klar, dass ich, wenn Du diese Zeilen liest, nicht mehr auf der Erde weilen werde. Aber wie Du noch herausfinden wirst, ist keiner, derDich wirklich geliebt hat, jemals weit
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