Die Mitternachtsrose
von Dir weg.
Du bist ein besonderes Kind. Mir ist klar, dass alle Eltern das von ihren Kindern glauben, doch Du bist zu einem bestimmten Zweck auf diese Welt gekommen. Ich bezweifle, dass Deine Reise leicht sein wird. Du darfst nie vergessen, dass das Schicksal viele schwierige Situationen für uns bereithalten kann. Wann immer Du Dir unsicher bist, welchen Pfad Du wählen sollst, bitte ich Dich, Deiner Intuition zu folgen. Sie wird Dich leiten.
Wahrscheinlich hast Du die Geister an dem Tag, an dem ich von dieser Erde geschieden bin, singen hören– bei mir war es jedenfalls so, als meine Mutter mich verlassen hat. Wenn Du diese Zeilen liest, fühlst Du Dich sicher allein. Dazu besteht kein Anlass, Anni, denn Du bist nicht allein. Dein Leben verläuft genau so, wie die höheren Mächte es wollen. Vergiss nie, dass unser Schicksal von ihnen bestimmt wird. Vielleicht sitze ich jetzt, da Du, pyari, diese Zeilen liest, bei ihnen und beginne zu verstehen.
Die Gabe, die Du geerbt hast, ist Segen und Fluch zugleich. Sie kann Dich in einen dunklen Abgrund ziehen, wenn Du den Tod eines geliebten Menschen vorhersiehst, Dich jedoch auch zu den Sternen emporheben, wenn Deine besonderen Kräfte helfen, jemanden gesunden zu lassen.
Wie Du auf Deiner Lebensreise noch feststellen wirst, meine Tochter, lässt sich alle Kraft sowohl für das Gute als auch für das Schlechte nutzen. Ich weiß, dass Du Deine Gabe klug einsetzen wirst.
Ich habe Zeena, der ich blind vertraue und der auch Du vertrauen solltest, zwei Dinge für Dich anvertraut. Lass Dir von ihr beibringen, was sie weiß– sie versteht Dich. Das eine ist mein Buch ayurvedischer Formeln mit den Rezepturen für meine Arzneien. Sie wurden über viele Generationen zusammengetragen und sind sehr wertvoll. Ich hoffe, dass sie Dir auf Deiner Lebensreise helfen werden. Achte gut darauf, denn sie enthalten Wissen und Weisheit Deiner Vorfahren, allesamt Frauen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.
Der zweite Gegenstand ist das, was Dein Vater immer unsere » Versicherung « genannt hat. Er hat mir erst am Abend seines Todes von seiner Existenz erzählt; ich kenne seinen Wert nicht und weiß auch nicht, wie er daran gekommen ist. Möglicherweise hatte er ihn als Mitgift für Dich gedacht. Wenn Du das Gefühl haben solltest, dass das der richtige Zweck ist, liegt es in Deinem Ermessen, ihn dafür zu verwenden.
Meine liebe Tochter, lass Dich von Deinem Kummer und Deiner Verzweiflung über Dein gegenwärtiges Schicksal nicht daran hindern, das Leben zu führen, das Dein Vater und ich uns für Dich gewünscht haben. Auch wenn Du das Gefühl haben magst, dass wir Dich zu früh verlassen haben, kann ich Dich trösten, dass wir in dem Moment, in dem Du diese Zeilen liest, beisammen sind und Dich voller Liebe beobachten.
Wie Dein Vater gesagt hat: Versuch immer, Dir selbst treu zu bleiben. Und ein guter Mensch, in allem, was Du tust.
Deine Dich liebende Mutter
Ich las den Brief mehrmals, weil ich die Worte beim ersten Mal vor Tränen nicht sehen konnte. Dann öffnete ich mit zitternden Fingern den kleinen Jutebeutel und ließ den Inhalt auf den Boden gleiten.
Es handelte sich um drei Steine, wie sie überall in Indien zu finden waren. Als ich den größten in die Hand nahm, fragte ich mich, warum mein Vater sie als » Versicherung « bezeichnet hatte. Verwirrt steckte ich sie in den Beutel zurück, stand auf und kehrte niedergeschlagen in den Palast zurück.
Erst Wochen später, als die Maharani Besuch von ihrem örtlichen Juwelier erhielt, der ihr Steine für eine neue Halskette, ein Geschenk ihres Mannes, präsentierte, erkannte ich ihren wahren Wert. Der Juwelier legte diese Steine, die genauso unscheinbar aussahen wie meine, auf eine Art Tablett, um mit einem Spezialwerkzeug vorsichtig den Schmutz davon zu entfernen. Als etwas rot Schimmerndes darunter zum Vorschein kam, begriff ich, was mein Vater mir hinterlassen hatte: drei Rubine.
Am Ende vergrub ich den Jutebeutel mit bloßen Fingern unter dem Pavillon. Meine Mutter hatte recht gehabt– obwohl ich den Wert der Steine nicht kannte, verließ ich den Pavillon mit ein wenig leichterem Herzen, weil ich das Gefühl hatte, einen Notgroschen zu besitzen.
Von diesem Tag an verbrachte ich, wenn Indira als Prinzessin an offiziellen Anlässen oder Diners teilnehmen musste, so viele Stunden wie möglich mit Zeena im Kräutergarten, um mir von ihr alles beibringen zu lassen, was sie wusste. Obwohl ich damals nicht vorhatte,
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